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Europa

Europa, das globale System und die Idee rationaler Akteure

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 01.12.2023

Münkler steckt hier noch einmal den großen Rahmen ab, in dem sich deutsche und europäische Politik bewegt und zukünftig wahrscheinlich bewegen wird. Interessant finde ich seine Sicht auf den Glauben an den "rationalen Akteur" bzw. die Annahme, andere agieren nach unseren Vorstellungen von Rationalität, Logik oder Vernunft. Oder eben der Vermutung, unsere Kontrahenten würden auf vergleichbare Situationen reagieren wie wir selbst.

Sicher haben mehrere Faktoren zum aktuellen Chaos beigetragen. Der "Hüter" der globalen Ordnung, die USA, ist seiner Rolle nicht gerecht geworden (was vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war) und hat sich dabei überdehnt. Auch der Glaube, die wirtschaftliche Verflechtung führe automatisch zu am Wohl der Menschheit orientierter politischer Kooperation, war naiv. Und der Westen hat das Denken, die Logik revisionistischer Mächte gründlich missverstanden. Man hat versucht, die Idee der liberalen Gesellschaft durch Appelle und über vertrauensbildende wirtschaftliche Verflechtung durchzusetzen. Oder im Notfall durch militärische Intervention die Grundlagen für demokratische Systeme zu schaffen. Russland gegenüber versuchte man z.B. klarzumachen, dass ein Angriffskrieg auf die Ukraine nicht im russischen Interesse sei:

Man ging davon aus, dass man es mit rationalen Akteuren zu tun hat, die am Wohlstand ihrer Bevölkerung orientiert sind, also mit Homines Oeconomici. Die Überraschung war, dass Putin sich mehr von post-imperialen Phantomschmerzen, also runtergeschluckter Wut, hat lenken lassen als von einer kühlen Abwägung der Kosten und Nutzen. 

Dann ergibt sich eine Konstellation, wie sie etwa Krastev formuliert

Das Paradoxe der derzeitigen Situation ist, dass die Mehrheit der Russen der festen Überzeugung ist, in einem Krieg gegen den Westen zu sein. Während die meisten Amerikaner und Europäer nicht glauben, in einem Krieg gegen Russland zu sein.

Ein ziemlich grundsätzliches wechselseitiges Missverstehen. Die gesamte Ordnung nach 1990 beruhte aus der Sicht des Westens auf der Annahme, die anderen Akteure folgen unserer eigenen Rationalität, unseren Welt- und Wertvorstellungen. Typen wie Putin, Kim Jong-Un, die Taliban, die Hamas etc. waren in der dominierenden westlichen Denke nicht wirklich vorgesehen. Andersherum sind wohl diese Autokraten und Teile ihrer Bevölkerung davon überzeugt, dass das Reden von universellen Menschenrechten nur ein Trick des Westens ist.

Es hat sich gezeigt, dass diese Ordnung zu anspruchsvoll ist angesichts der Diversität politischer Systeme. Unter diesen Umständen steht eine Weltordnung auf sehr wackeligen Beinen.

Die Menschheit als Ganzes verfügt über keine eigenen Ressourcen, um eine neue Ordnung zu gestalten. Die USA sind mit ihren Kräften eher auf dem Rückzug aus der globalen Arena. China übernimmt – so Münkler – keine globale Verantwortung, 

es erweitert lediglich seine Einflusszone, sodass die Vorstellung eines chinesischen Zeitalters illusionär ist. Die Ordnung, die im Entstehen begriffen ist, hat keinen Hüter, der über die Einhaltung der Regeln wacht, sondern eine Mechanik. Sie wird eine normative Unterdeckung haben gegenüber der alten Weltordnung. Es wird weniger politische Philosophie der internationalen Beziehungen geben und mehr geopolitische Analysen. 

Es bildet sich für Münkler eine auf das quasi physikalische Spiel der Kräfte konzentrierte Mechanik heraus, die eine möglicherweise relativ robuste Weltordnung grundiert.

Es wird vermutlich eine Pentarchie sein, und die Stabilität beruht auf der wechselseitigen Anerkennung der Großen, also USA, China, Russland, Indien und vermutlich Europa. Sie leisten Ordnungsarbeit in einem umgrenzten Raum und versuchen, die zweite und dritte Reihe einzubinden. 

Diese zweite Reihe, Länder wie z.B. Argentinien oder Indonesien, wird aufgewertet. Es entsteht also ein Mechanismus, der der europäischen Ordnung bis zum Ersten Weltkrieg vergleichbar ist. Das ist allerdings keine Friedensordnung mehr, 

sondern eine, in der das Militär eine größere Rolle spielt. Das wurde den militärunwilligen Europäern durch das russische Agieren in der Ukraine aufgezwungen. 

Es scheint, die Idee, man könne mit immer weniger Waffen und Soldaten den Frieden garantieren, ist erstmal widerlegt. Auch die wirtschaftliche Macht als Mittel internationaler Politik ist in der Realität stark relativiert worden. Die westlichen Länder haben kein industrielles Quasi-Monopol mehr und Rohstoffe kaufen auch andere gern.

Man hatte die Abhängigkeiten einseitig gedacht und übersehen, dass auch wir von unseren Handelspartnern abhängig sind, von russischem Erdgas und Erdöl, das nun nicht mehr fließt. Wohlstandsgesellschaften mit demokratischer Beteiligung sind hier sogar verwundbarer als eine Mangelwirtschaft, deren Bevölkerung an Kargheit und Knappheit gewöhnt ist.

Für Münkler kommt es nun zunehmend auf das „Zünglein an der Waage“ zwischen den großen und mittleren Mächten an. Eine Macht also, die das Gleichgewicht zwischen den großen Akteuren herstellt, damit das System nicht in Richtung einer Hegemonie oder in einen großen, globalen Konflikt kippt. Historisches Vorbild sei 

Großbritannien, das die europäische Pentarchie ausbalancierte. Heute sehe ich Indien in diese Rolle hineinwachsen. Es steht zwischen den Mächten. Auf der einen Seite ist es die größte Demokratie der Welt, andererseits zeigt Narendra Modis Hindu-Nationalismus eine Distanz zum Westen an. Doch auch zu China hält es Abstand, die Beziehungen zu Russland sind klassischerweise gut, zum Westen jedoch ebenfalls. 

Es bleibt die Frage nach Rolle und Status Europas in diesem Zukunftsmodell. Wird es der Union gelingen, ein Stück weit aus ihrer Regelwirtschaft und der Zerstrittenheit herauszukommen? Um als geschlossene und schnelle politische Handlungsmacht globale Prozesse entsprechend mitzugestalten? Die Imperative des internationalen Kräfte-Systems drängen uns sicher in diese Richtung. Brauchen wir dazu gemeinsame Kernwaffen, wie viel unserer Wertschöpfungsketten können oder sollten wir in die Union zurückholen. Wir müssen uns aber auch klarmachen, 
die Zeitspanne zwischen der Auflösung der alten Weltordnung und der Formierung einer neuen Weltordnung ist eine Zeit vermehrter und intensivierter Kriege, weil viele Akteure ihre Position im Hinblick auf die entstehende neue Ordnung verbessern wollen. In einer solchen Phase befinden wir uns zurzeit; es ist anzunehmen, dass deswegen noch eine Reihe von weiteren Kriegen entstehen werden. 



Europa, das globale System und die Idee rationaler Akteure

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 12 Monaten

    "die wirtschaftliche Verflechtung ... die Idee der liberalen Gesellschaft durch Appelle und über vertrauensbildende wirtschaftliche Verflechtung durchzusetzen." - ja das war wirklich furchtbar böse... Gut: der Westen (plus all die Staaten weltweit die ebenfalls auf rationale Weltordnung setz/ten) hat die rationalen Gründe und die eigenen Erfahrungen zu stark gewichtet; allerdings gibt es viele nichtrationale Beweg-Gründe, die den "Westen" umtreiben und im Text untergehen:
    die tiefe Überzeugung, eben nicht mit der Macht der Stärkeren global regieren zu müssen / dürfen, nicht eventuellen Pentarchen die Welt zu überlassen und auf Basis von universalen Werten zu agieren etc.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 12 Monaten

      Das war nicht böse, es war oft naiv. Da sich universelle Werte nicht selbst durchsetzen sondern nur da gelten, wo sie mit Stärke durchgesetzt werden, hat man die Welt in weiten Teilen Autokraten überlassen. Die nun immer stärker werden. Die, weil ihnen universelle Werte nicht als universell gelten auch nicht auf dieser Wertebasis agieren. Nein, auch der Westen hat weitgehend nicht rational agiert.

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 12 Monaten

    Erhellend fand ich den Krastev, auch in seiner Ratlosigkeit, die ich so von ihm nicht kannte und auch nicht erwartete.

    Vieles von Münkler findet man in diesem piq sogar ausführlicher:
    https://www.piqd.de/ze...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 12 Monaten

      Ich fand den Hinweis von Münkler, man sollte die eigene Rationalität nicht für allgemeingültig halten schon interessant. Habe ich jedenfalls so noch nicht bei ihm gelesen. Auch deswegen haben u.U. die Lösungsstrategien die er vorschlägt im Fall Putins nicht funktioniert. Dem ging es nicht um Wohlstand fürs Volk …..

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