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Flucht und Einwanderung

Swetlana Alexijewitsch verlebt ihren 75. Geburtstag im Exil

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
Zum Kurator'innen-Profil
Achim EngelbergMittwoch, 31.05.2023

Eigentlich wollte die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2015 keine schweren Bücher über Aufstieg und Abstieg der Sowjetunion, den Zweiten Weltkrieg und den Stalinismus, Tschernobyl und dem Leben in den Trümmern des Imperiums schreiben, aber die Verhältnisse, die sind nicht so.

Die am 31. Mai 1948 geborene Autorin feiert heute ihren 75. Geburtstag im Exil und arbeitet weiter an ihren schweren Stoffen, die aktueller nicht sein können.

Nina Weller vom famosen Dekoder-Team überreicht einen Geburtsstrauch mit Infos.

In diesem wird Wremja sekond chend (Secondhand-Zeit) als ihr Opus magnum eingeschätzt, dem ich zustimmen kann. Hier mein Artikel aus dem Jahr 2013 anlässlich der deutschen Übersetzung in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Er endet mit dieser Passage mit vielen Zitaten:

Die prägendste Gestalt der Sowjetunion bleibt einer der größten Massenmörder und – zugleich – Sieger über einen anderen Massenmörder: Stalin. Wenn es dereinst sowjetische Ruinen geben sollte, die man besucht wie die von Rom, werden sie von ihm künden. Den Zuckerbäckerstil von Stalin kann man missbilligen, aber er wurde machtvolle Realität, nicht ohnmächtige Plattenbautristesse. Deshalb kommen bis heute die Gespräche immer wieder auf ihn, der den Nationalstolz befriedigte: „Man wird Stalin mal einen großen Mann nennen. Das Beil liegt noch da. Das Beil überlebt seinen Herrn.“

Was aber kann man tun in einem vom KGB gesteuerten Kapitalismus, der das Beil wieder aufhob? Ein Unidozent glaubt zu wissen, dass für viele Studenten, der Kapitalismus mit „Ungleichheit, Armut, dreist zur Schau getragenem Reichtum“ verbunden ist: „Sie haben das Leben ihrer Eltern vor Augen, die von dem geplünderten Land nichts abbekommen haben. Sie sind radikal einge-stellt. Träumen von ihrer eigenen Revolution.“ Doch die anschwellende Wut, so fürchten andere, werde sich nicht gegen die Villenbesitzer entlang der Rubljowka entladen, sondern gegen Gastarbeiter, die in Pappkartons hausen.

Die Besten verlassen derweil ihr Land und arbeiten in Brooklyn oder Tel Aviv. Swetlana Alexijewitschs großes Werk klingt aus mit den Worten einer Frau vom Lande: „Wir hier leben, wie wir immer gelebt haben. Unter dem Sozialismus und unter dem Kapitalismus. ‚Rote‘ oder ‚Weiße‘, das ist für uns gleich. Haben Sie meinen Flieder gesehen, wie schön der ist? Nachts gehe ich manchmal raus, da leuchtet er. Kommen Sie, ich breche Ihnen einen Strauß."

Natürlich soll Swetlana Alexijewitsch zu ihrem Geburtstag das letzte Wort bekommen. Einen Monat nach meinem Beitrag, im November 2013, publizierten die Blätter für deutsche und internationale Politik ihre Frankfurter Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels:

Alles wiederholt sich, in Russland. In meinem kleinen Weißrussland gehen Tausende junge Leute erneut auf die Straße. Sitzen im Gefängnis. Und reden über die Freiheit. Vor der Revolution von 1917 schrieb der russische Schriftsteller Alexander Grin: „Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.“ Auch jetzt ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz. Manchmal frage ich mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin. Um den Menschen zu finden.


Swetlana Alexijewitsch verlebt ihren 75. Geburtstag im Exil

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