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Fundstücke

"Viele hoffen jetzt in irgendeiner Art und Weise auf die Taliban"

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerFreitag, 20.08.2021

Handstreichartig haben die Taliban dem Westen innerhalb weniger Tage klargemacht, wie wenig Ahnung er von Afghanistan hat. Und wenn man sich all die hehren Konzepte noch einmal vor Augen führt, die nach der Besetzung des Landes im Dezember 2001 kursierten, werden die Illusionen in der Rückschau geradezu peinlich. Anfangs war gar von "nation building" die Rede.

Optimistisch hieß es im Mai 2002 in der Zeitschrift "Internationale Politik" im Beitrag "Der Wiederaufbau Afghanistans":

Doch erfolgreiche Beispiele des Wiederaufbaus – Europa nach 1945 und die Länder des Balkans – können Hoffnung geben, wenn die internationale Gemeinschaft und Afghanistan gut kooperieren und die Hilfe koordiniert wird.

Tatsächlich hatte man damals viele Aspekte im Blick, die letztlich nie umgesetzt wurden oder die aufgrund der Gewalt nie umgesetzt werden konnten, darunter die Verteilung von Saatgut. Gerade die Vernachlässigung der ländlichen Regionen gilt heute als einer der entscheidenden Fehler (siehe dazu auch das gepiqde Interview).

Öfters ist zu lesen, 2004/05 sei der Wendepunkt gewesen, danach sei alles entglitten. Trotz teils sehr heikler Sicherheitslage war damals in einem Dokument der Friedrich-Ebert-Stiftung zu lesen:

Insgesamt war das Jahr 2004 für Afghanistan zwar ein schwieriges Jahr. Die Entwicklungen und das Voranschreiten auf dem Fahrplan zur Demokratie stimmen jedoch vorsichtig optimistisch, dass Afghanistan in der Zukunft zu der Hälfte der Länder gehören könnte, in denen der Friedensprozess erfolgreich verlaufen ist.

Danach endete die Zuversicht; die Ziele wurden, wie man dachte, realistischer und robuster formuliert. Vor allem wurde dem Militär mehr Vorrang eingeräumt. Erinnert sei an die Diskussionen um ISAF und Operation Enduring Freedom. Wer sich damit en détail befassen möchte, wird auf der etwas rumpeligen Internetseite des langjährigen MdB Winfried Nachtwei fündig. Meines Wissens hat kein anderer deutscher Politiker die Lage in Afghanistan genauer und oft auch aus der Nähe beobachtet.

Verweisen will ich hier nun auf ein Interview mit meinem Mitpiqer Emran Feroz, der regelmäßig vor Ort ist. Die derzeitige Lage, die Hoffnungen und Ängste der Menschen, fasst er so zusammen:

Im Westen oder unter privilegierten Afghanen werden oft die universellen Werte und die persönlichen Freiheiten in den Mittelpunkt gerückt. Aber für viele Durchschnittsafghanen ist das alles noch weit weg. Für sie hat Sicherheit Priorität; dass sie, wenn sie unterwegs sind, nicht angegriffen oder von einer Diebesbande ausgeraubt werden. Die Kriminalitätsrate war in den Städten in den letzten Jahren sehr hoch. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Regierung versagt hat, und hoffen jetzt in irgendeiner Art und Weise auf die Taliban. Demgegenüber steht natürlich die ungeheure Angst, die viele Menschen vor dem Regime haben. Fast alle meine weiblichen Verwandten in Afghanistan fühlen sich unsicher.

So traurig es ist: Die schnelle Machtübernahme der Taliban dürfte am Ende sicher besser gewesen sein als ein jahrelanger Bürgerkrieg zwischen ihnen und den Regierungstruppen. Doch auch darauf weist Emran Feroz hin: Die Taliban mögen sich verändert haben und auf eine beruhigende Rhetorik setzen, aber einen Vertrauensvorschuss haben sie nicht verdient. Trotz all ihrer Verbrechen kann er sich sogar vorstellen, dass sie eines Tages noch einmal vom Westen gebraucht werden: zur Bekämpfung eines gemeinsamen Feindes.

"Viele hoffen jetzt in irgendeiner Art und Weise auf die Taliban"

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Kommentare 1
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als 3 Jahre

    Vorhin sah ich einen Post von unserem Piq-Kollegen Emran Feroz: Im ND gibt es einen Vorabdruck aus seinem neuen Buch DER LÄNGSTE KRIEG.

    https://www.nd-aktuell...?

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