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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
In den letzten Jahren gab es einen gewissen Hype um die bizarre, formenreiche und farbenprächtige Welt sowjetischer Bushäuschen. (Z.B. 2015 Christopher Herwig "Soviet Bus Stops", oder schon 2009 als Bildteil in Christoph Brummes Fahrrad-Reisebericht "Auf einem blauen Elefanten".) Eine kleine architektonische Form, die bei uns eher standardisierte Zwecklösungen kennt, war dort offenbar eine Gelegenheit, mit konstruktivistischen Schalenbeton-Space-Age-Gebilden zu experimentieren. Verziert sind diese Bushäuschen oft mit farbenfrohen Mosaiken in den verspieltesten Bildsprachen. Eine Welt, die den meisten von uns völlig unbekannt sein dürfte, da wir selten im postsowjetischen Niemandsland an einer Bushaltestelle auf einen Bus warten, der vielleicht nie mehr kommt. Nun gibt es einen opulenten Bildband, der sich dem Phänomen der sowjetischen Mosaik-Großkunst auf ukrainischem Territorium widmet. Der Fotograf und Autor Yevgen Nikiforov ist für "decommunized: ukrainian soviet mosaics" (DOM publishers, 2017) 35000 Kilometer seines Heimatlandes abgereist, um in 109 Städten und Dörfern auf die Suche nach diesen ungeliebten Zeugnissen der jüngeren Vergangenheit zu gehen. Eine nicht unwesentliche Motivation dafür war, daß in der Ukraine im April 2015 das "Gesetz über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regime in der Ukraine und das Verbot der Propaganda mit deren Symbolen" verabschiedet wurde, woraufhin in wenigen Monaten tausende Straßen und Plätze umbenannt wurden, Lenin-Statuen beseitigt, aber eben auch Mosaike zerstört, wenn sie nicht sowieso schon in den 90ern hinter Werbeflächen verschwunden waren, für geschmacklose, postmoderne Fassaden-Verkleidung wegrenoviert wurden oder mit den Gebäuden verfallen sind. Die Ausbeute dieser Suche kann nicht anders als spektakulär bezeichnet werden. In verschiedensten Bildformaten wurden von den 60er bis 80er Jahren Plattenbaufassaden, Bahnhofshallen, Schwimmbäder, Willkommens-Stelen von Ortschaften, Kulturpaläste, Schulen, Flughäfen, Fabrikgebäude oder gleich die ganze Außenfläche des Nikolai-Ostrovsky-Museums (ostdeutschen Schülern bekannt als Autor des Bürgerkriegs- und Komsomolzenromans "Wie der Stahl gehärtet wurde") in Shepetiwka mit ungewöhnlich vielfältigen Mosaiken geschmückt. Dabei ist das propagandistische Element gar nicht so vorherrschend, wie man denken könnte, auffälliger ist die Vielfalt der Stile, der Einfallsreichtum, mit dem die kanonischen Motive des sozialistischen Realismus (Arbeiter, Bauer, Ingenieur, Schüler, Kleinfamilie, Sportler, Traktor, Raumschiff, Atommodell) variiert werden, oder die schiere Farbenpracht, denn die Keramikplättchen heben sich umso leuchtender von ihrer Umgebung ab, je trister diese wirkt. Eine Eigenschaft, die sie mit Werbetafeln teilen. Mit diesen teilen sie auch ihre relative Unsichtbarkeit für die Passanten, die darauf trainiert sind, sie im Alltag nicht zu beachten. Die Mosaike wurden von der Bevölkerung nie als Kunst gesehen, sondern als staatliche Propaganda. Auch heute dürfte ihnen nur eine Minderheit künstlerischen Wert zuerkennen, ganz abgesehen von der Konnotierung als ungeliebte Relikte einer negativ bewerteten gemeinsamen ukrainisch-russischen Geschichtsperiode.
Natürlich gibt es auch in der westlichen Welt herausragende Beispiele für Mosaik-Großkunst (z.B. in Barcelona den berühmten Parc Güell von Antoni Gaudí, oder in Frankfurt/Main im MAIN TOWER Stefan Hubers "Frankfurter Treppe" von 1999). Die Materialfülle im vorliegenden Band lädt aber zu der These ein, daß Mosaike eine bevorzugte Technik im Sozialismus gewesen sind. (Man denke an die herrlich sperrig betitelten Werke von Josep Renau, einem katalanischen Kommunisten, der in der DDR tätig war. In Erfurt wird sein von 1984 stammendes Glaskeramik-Wandmosaik "Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik" gerade restauriert und an einem Nachfolgebau des Kultur- und Freizeitzentrums angebracht. Von ihm stammen auch am ehemaligen Lehrlingswohnheim in Halle-Neustadt die beiden Monumental-Keramik-Wandmosaike "Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik" und "Die Einheit der deutschen Arbeiterklasse als Voraussetzung für das Wirksamwerden ihrer Schöpferkraft", sowie "Die friedliche Nutzung der Atomenergie" am Bürogebäude des Energiekombinats Halle. Nicht zu vergessen Walter Womackas Mosaik-Fries "Unser Leben", das flächenmäßig größte Kunstwerk Europas, das seit 1962 das Berliner Haus des Lehrers schmückt.) Vielleicht war es einfach die Tatsache, daß man so eine aufwendige Technik bezahlen konnte, da eine planmäßig festgelegter Prozentsatz von den Kosten jedes Bauvorhabens ja in baugebundene Kunst floß? (Auch Fabriken und Kombinate hatten Budgets für Auftragskunst und legten ganze Sammlungen an.) Oder spielt gar die Symbolik dieser Technik eine Rolle, da bei Mosaiken ja das einzelne Steinchen bedeutungslos ist und erst im "Kollektiv" zum Bild wird, wie auch beim Nordkoreanischen Stadionspektakel der durch von Menschen hochgehaltene Tücher gebildeten Mosaike? (Ich erinnere mich an die Abschlußzeremonie der Olympischen Spiele in Moskau 1980, bei der die Zuschauer mit Tüchern einen Mischka-Bären "malten", der beim Abschied von den Besuchern aus aller Welt Tränen vergoß, die effektvoll zu Boden tropften.) Oder sollte die sowjetische Mosaikkunst gar, wie die russisch-orthodoxe Kirche, ein Erbe von Byzanz sein?
Die Propaganda-Mosaike wirken heute fremd und rätselhaft wie archäologische Relikte, dabei ist die Bildwelt denen, die die Zeit erlebt haben und den Kontext kennen, ganz selbstverständlich. Für die Nachgeborenen sind sie aber exotisch und immer weniger zu entschlüsseln. In Orten, deren Namen man inzwischen leider vor allem aus den Nachrichten kennt, in Kiew, Mariupol, Charkiw, oder in Kurorten auf der Krim, sieht man kitschig-naive bis anspruchsvoll-expressive Großkunst mit stets beschäftigten Menschen, arbeitend oder sich aktiv erholend (beneidenswert entspannt wirkt immer der Typus "Schwebender Kosmonaut"). Seit 1982 blicken vom Giebel über dem Eingangsbereich einer Schule in Odessa nachdenkliche Gesichter von Jugendlichen herab. Seit 1980 schmückt das Kiewer Hygieneinstitut eine dreidimensionale (!) Mosaikarbeit "20.Jahrhundert" mit einer von riesigen Händen behüteten Kleinfamilie, in deren Zentrum wiederum ein eine Blume haltender Junge steht. Am Saporischschjaer zentralen Postamt sieht man seit 1967 einen Arbeiter-Giganten, der mit seinen bloßen Händen einen Staudamm aufspannt wie einen Expander.
Der Autor teilt seine Funde in die Kategorien Arbeit und Industrialisierung, Geschichte und Ideologie, Sport und Freizeit, Wissenschaft und Raumfahrt, Folklore und nationale Motive. Eine besondere Rolle spielt natürlich die Raumfahrt, die Eroberung des Kosmos, der Kosmonaut als sozialistischer Mustermensch (noch in den fiktiven Wende-Nachrichten aus "Good bye Lenin" wurde der erste deutsche Kosmonaut Sigmund Jähn, der bis heute hohes Ansehen genießt, zum neuen Reform-Staatschef der DDR ernannt.) Das quasi-religiöse Versprechen auf den immer weiter in die Ferne rückenden Kommunismus (anfangs rechnete man noch mit einer Wartezeit von ca. 20 Jahren) machte es so attraktiv, durch die Raumfahrt die Zukunft schon in der Gegenwart zu erleben. Science-Fiction-Literatur war im Sozialismus besonders populär (auch, weil die Form die Möglichkeit bot, gesellschaftliche Mißstände anzusprechen, wenn auch nur auf fremden Planeten und in der fernen Zukunft).
Der Bildband provoziert Fragen. Wie kann es sein, daß die Erzeugnisse einer propagandistischen Staatskunst solchen Schauwert und solche handwerkliche Qualität haben, daß sie unsere kommunale Kreisverkehrsinselkunst blaß aussehen lassen? Auch der ideologiekritischste Betrachter wird bei den ukrainischen Mosaiken nicht durchweg von Kitsch sprechen können. Wie könnte man diese Relikte, statt sie zu zerstören, für die politische Bildung heutiger Generationen nutzen (deren Mosaikkunst Pixelgrafik heißt)? Warum halten wir es für normal, daß wir unser Leben zwischen kapitalistischer Propagandakunst (Werbung) verbringen, wenn wir die Lügen der sozialistischen (zu Recht) kritisch sehen?
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interessant - ich hätte nicht vermutet, dass das so eine explizit sozialistische Ausdrucksweise war...im Westen hatte es mindestens auch seine Zeit, meine laienhafte Schätzung lautet: frühe 70er. Viele Schulen, Schwimmbäder, aber auch Kirchen meiner Kindheit waren so gestaltet. Und sind es natürlich teilweise noch. Im Motiv natürlich eher absurd als politisch manipulativ. Da ich dafür bin, Werbung als Dienstleistung und/oder Kunstform zu betrachten, empfehle ich also jetzt den Werbeagenturen für die langfristige Brand-Werbung Mosaike zu nutzen anstatt ständig Plakate zu erneuern.