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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
"Jug" bedeutet "Süden" und Jugo bezeichnet den Südwind Schirokko, den Wind vom "weiten, offenen Meer" (was als Adjektiv verwendet široko, "weit", lauten würde, doch das Adjektiv meint nicht den Wind, sondern den Meeresspiegel, der pučina heißt, "das, was glitzert"). Dieser schwülwarme Wind mit dem Duft orientalischer Süßigkeiten bringt Regen und Angst."
Vor wenigen Wochen bereiste ich jene Region am Meer, dieses nicht mehr existierende Land im Südosten Europas, dessen Bezeichnung neu zu erfinden ist. Selbst aus einem Ex-Land stammend, suche ich diese Silbe zu meiden, was für das ehemalige Jugoslawien ungleich schwerer fällt, da es zweimal den Titel verlor. Zurück in meinem Lädchen fand ich das braune Taschenbuch "Autopsie des Balkans" des Droschl Literaturverlages von 2001. Die Autorin Rada Iveković wurde 1945 in Zagreb geboren und emigrierte 1991/1992 nach Paris/St. Etienne, wo sie bis heute lebt und lehrt. Poetisch das Verlorene in Worte gießt.
Wind der Unendlichkeit in Grau- und Goldtönen, der Wellen zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Hoffnung wegen der unerwarteten Erwärmung, und doch Vorbote des Winters (oh, wieviel gefährlicher als im Sommer!) – Hoffnungslosigkeit wegen der Verdüsterung. Plötzliche und willkommene Wärme und gleichzeitig das Versprechen eines langanhaltenden Schlechtwetters. Die betörende Sanftheit läßt die nachfolgende Katastrophe vergessen, wie auch den Wunsch, sie geweckt zu haben. Der Jugo inszeniert düstere Bilder großer Unruhe auf See und in der Psyche, gleich den meeresgewitterverhangenen Landschaften des Malers Crnčić…
So fährt Rada Iveković in ihrem Kapitel "Der maritime Traum im Herzen der Politik" fort, und zählt die Farben auf, rote Karst-Erde, weiße Boote, Segel und Felsen, das blaue Meer - und der rote Stern. Ich drifte ab zu meinen Bildern Kroatiens, die mir die Adria-Küste markieren - das erträumte und nie bereiste Jugoslawien meiner Kindheit ist verschwunden. Der Sohn einer Kollegin meiner Mutter wurde in den 70er Jahren mehrfach an die Adria verschickt, es gab ein Erholungsheim für lungenkranke Kinder, welches auch DDR-Kinder betreute. Für uns andere blieb das Meer wie Jugoslawien unerreichbar. Braungebrannt kehrte Michael zum Schulanfang in die Stadt des Schwermaschinenbaus zurück, einen echten Flummi, Kaugummis und Geschichten von sagenhaften Erlebnissen im Gepäck.
Schlummerte in meiner Heimatstadt Magdeburg noch das Grauen vor den Kroaten (der bis heute so genannte "Kroatenhügel" soll kroatischen Söldnern während der Belagerung der Stadt im Jahre 1631 als Abschussrampe für ihre Kanonen gedient haben), erzählten mir später Gleichaltrige von den "Jugo"- Kindern in ihren westeuropäischen Städten, welche sich erst mit dem Ausbruch des Krieges als Kroaten, Serben oder Bosniaken definierten, wie auch der Schweizer Musiker und Literaturwissenschaftler Boris Previsic erzählt. Bis dahin galt Jugo-, selbst das in Kragujevac hergestellte Auto trug den Namen Yugo.
"Alles war Jugo in diesem Land, die Bank Jugobanka, das Unternehmen Jugoriba, eine Fischerei- und Handelsgenossenschaft, Jugotransport für ein Transportunternehmen, Jugosplastika für eine Hersteller von Plastikprodukten, alle Produkte als Jugoprodukte von Jugovics konsumiert."
Schreibt Iveković, und alle Republiken sowie die Mutter Jugoslawien - trugen auf ihren Fahnen den roten Stern, "eine Art Seezeichen, gleich dem seltsamen, vertrauten Tier unserer großen Ferien, für das wir große Sympathie hegten." Viele Produkte und Sportvereine hießen "Roter Stern", denn er verkörperte gewissermaßen das Beste im Lande, "das Meer als Heimat", "das sanfte Sommerland".
Detailliert historisch geht Marie-Janine Calic, Expertin für Südosteuropäische Geschichte, in ihrer als Taschenbuch neu erschienenen "Geschichte Jugoslawiens" auf die Gründung des Landes ein, welches zweimal, 1918 und 1945 unter ganz unterschiedlichen Systemvorgaben realisiert wurde; zuerst als zentralistische parlamentaristische Monarchie, danach als sozialistische Förderation.
"Beide Modelle warfen vier grundsätzliche Probleme langer Dauer auf: die ungeklärte, sich immer wieder mit neuen Facetten artikulierende nationale Frage, Rückständigkeit und Armut in einer kleinbäuerlich geprägten Gesellschaft sowie die Abhängigkeit von auswärtigen, hegemonial-expansiven Macht- und Wirtschaftsinteressen. Gewaltige historische und sozial-ökonomische Disparitäten kamen erschwerend hinzu, weil auf engem Raum verschiedene Traditionen und Entwicklungsmuster aufeinander trafen."
Erklärt die Historikerin auf 340 Seiten alle Facetten dieser grundsätzlichen Probleme bis hin zum ruinös erstarrten "postjugoslawischen Raum", bezeichnet die Philosophin den Ausdruck Jugo- als negativ besetzt. Das semantische Feld wird gewechselt, die Sprache Serbokroatisch zerfällt, der Begriff "Jugoslawien" ist bei den Feinden und Opfern der serbischen Nationalisten tabu. Die Bezichtigung der Jugo-Nostalgie kommt einer Denunziation gleich. Wie soll ich nun die sieben Republiken nennen, deren Aussöhnung soweit entfernt scheint wie der Sommerurlaub an der jugoslawischen Adria?
Erst wurden Begriffe wie Region, zapadni Balkan (Westbalkan), jugoistočna Evropa (Südosteuropa) und andere probiert, sie waren jedoch zu schwammig oder ungenau, da sie z. B. Ungarn, Bulgarien und Albanien mit einbezogen oder aber Länder wie Slowenien ausschlossen. In seinem 2009 erschienenen Artikel „Entering the Yugosphere“ für den britischen Economist verwendete Tim Judah den Begriff Jugosphäre (im Original: Yugosphere/serbokroat.: Jugosfera), um das geografische Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zu erfassen. In der Folge etablierte sich der Begriff und wird von der internationalen Presse mitunter verwendet. Kulturell ist die Jugosphäre allmählich Realität geworden, Künstler und Schriftsteller rotieren nicht nur innerhalb von Slowenien, Serbien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, dem Kosovo und Bosnien, vertreten die Jugosphäre im europäischen Ausland und im europäischen Ausland lebende Ex-Jugoslawen übernehmen den Begriff, wie der Bonner Rapper Braco (er veröffentlichte 2017 das Album Jugosphäre). Die Jugosphäre ist Heimat für schätzungsweise 23 Millionen Menschen, denen nach Iveković eins gemeinsam war und ist:
"das Meer mit einem Hauch von latinischer Kultur, dalmatinischen Gesängen und einer ärmlichen Gastronomie, dafür allerdings schwerem Olivenöl. Fisch mit viel Brot, ein paar Gewürzen und Rotwein... Ferien, in denen die sich wieder finden, die aus verschiedenen Teilen des Landes kommen, in denen die Sprachen und Idiome nebeneinander existieren und sich gegenseitig verstehen."
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Bei dieser Autorin war und bin ich hin- und hergerissen.
Wenn sie auf der ersten Seite erläutert, dass das Buch nur ein Versuch sei, anhand eines historischen Beispiels zu erörtern, warum heutzutage (Original 1999) "der epistemologische Rahmen der Kohärenz zwischen Darstellungen und Selbstdarstellungen zerbrochen ist", muss ich lachen über diese leservertreibende unfreiwillige Komik, über eine Abgehobenheit, die von Borniertheit kaum mehr zu unterscheiden ist, aber dann gibt es wunderbare, augenöffnende Stellen, von denen Du einige zitierst. Wegen solchen Sätzen steht der Essay immer noch in meinen Bücherregalen.