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Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).
If I die, singt der auch schon wieder ziemlich dick gewordene Jeff Tweedy auf seinem neuen Album „Warm“, Don't bury me/ Rattle me down/ Like an old machine/ Take my books/ And my magazines (…) Everything/ I won't need. Damit bringt er nicht nur die beiden frühen Megatrends des Jahres 2019 – Erschöpfung und Verschwinden – auf den Punkt, sondern erinnert auch noch mal daran, dass Bücher (und Magazine!) hierfür immer noch Leitmedium sind.
Das weiß natürlich am besten Michel Houellebecq, der Altmeister all dieser Disziplinen: Erschöpfung, Verschwinden, Bücherschreiben, in Magazinen vorkommen. Gestern ist sein neuer Roman „Serotonin“ (Dumont, Deutsch von Stephan Kleiner) erschienen, heute ist die gesetzlich vorgeschriebene Ablauffrist für Wortmeldungen zum Buch fast schon verstrichen, nachdem die Streber vom Qualitätsfeuilleton alle schon mal zugeschlagen oder gestreichelt haben. Kleiner Überblick auf die wegrennenden Ereignisse:
Im letzten Herbst meldete sich Michel in den Vermischtes-Spalten zurück, indem er im Beisein von Carla Bruni zum dritten Mal heiratete (nicht Carla, die das Ereignis aber der Welt sozialmedial mitteilen durfte). Im Dezember veröffentlichte er im Harper’s Magazine einen fröhlich-naiven Ausländer-Brief an die Amerikaner, dass Trump gar nicht so schlimm ist (vor allem im Vergleich zur EU). Und letzten Freitag hab ich mir endlich mein Belegexemplar von „Serotonin“ bei der neuen Asia-Post in der Chausseestraße abgeholt, nachdem ich den Paketschein zwei unverantwortlich lange Tage in meinem Briefkasten überwintern ließ und mir Kollegen längst stolze Selfies von sich mit dem Buch schickten, das sich in der Tat ziemlich super wegliest (ich bin inzwischen auf Seite 138).
Aber weil ich ein demokratischer Verfechter des schwachen Denkens bin, interessieren mich natürlich vor allem die Andersmeinenden, deshalb möchte ich hier eine kleine private Presserundschau über die Rezensionen geben, die mir am besten gefallen haben:
1. Iris Radisch, die sich in der ZEIT tapfer nicht von Houellebecqs Versauter-Onkel-Sticheleien provozieren ließ, dafür aber in den Politik-Teil ausweichen musste (weil das Feuilleton komplett für brandaktuelle 500 Jahre Leonardo da Vinci geblockt war – man sieht förmlich vor sich, wie sie wie eine Löwin für ihren Text kämpfte: „nein, der Artikel kann NICHT eine Woche warten – seht zu, wo ihr den unterbringt!“):
Mit höhnischem Vergnügen haut Houellebecq eine Reihe von Provokationen raus, um seine Bewunderer aus dem Winterschlaf ihrer moralischen Gewissheiten zu reißen, giftet über die „untätigen Schwänze“ und „überflüssigen Brüste“ alter Leute, nennt Patchwork-Familien „widerlichen Mist“ und Goethe einen „grauenhaften Schwafler“, von Proust heißt es, er wäre „auf Rihanna steil gegangen“ (…) Houellebecq ist zurück in seiner liebsten Rolle als unerbittlicher Literaturterminator mit Schwerbehindertenausweis.
2. Robin Detje in der Schweizer Republik, der Autor und Figur vielleicht etwas moralin ins Gewissen redet (mit der interessanten Forderung, als Autor müsste man vor seiner eigenen Figur erschaudern):
Florent-Claude Labrouste könnte eine tolle Romanfigur abgeben: Don Quichotte mit erschlaffender Lanze im Sturm auf die Windmühlenmuschis. Ein klägliches Monster, ein trauriger Wüterich mit einer Rüstung aus allem möglichen ideologischen Schrott, den man am rechten Strassenrand findet. Ein Zeichen seiner Zeit, ein Verwandter der incels, dieser erniedrigten, beleidigten und gewaltbereiten Männerrechtler, und ihres Propheten Jordan Peterson.
Furcht und Mitleid könnte so ein Roman erzeugen – Furcht vor dem Waffennarren, Mitleid mit seiner völligen Unfähigkeit zur Empathie, die ihn seinem Selbstmitleid so restlos ausliefert. Schon auf Seite 67 erklärt die Hauptfigur den Phallus für den Mann zum «Kern seines Seins». Dieser Roman hätte der grosse Abgesang auf den steifen Schwanz werden können, eine welterschütternde Tragödie, eine markerschütternde Komödie. Ein Drama, eine Farce.
So einen Roman hat Michel Houellebecq nicht geschrieben.
(…) Vor allem aber ist Florent-Claude Labrouste keine Figur, der ihr Autor je erlaubt hätte, sich von ihm abzunabeln. Keine Figur, vor der er selbst zu schaudern imstande wäre. (…)
Michel Houellebecq verkörpert nun den Trumpismus in der Literatur. Wir erleben die Selbstheiligsprechung eines Taschenspielers: Ich bin die Nachricht, das Ereignis und die Sensation, und mein Affekt ist heilig. Er ist nicht der Letzte, der im Geniestübchen das Licht ausmacht, dort ist schon länger alles ziemlich finster. Er kann nur noch als Ereignis überleben.
3. Sieglinde Geisel, die sich in ihrer schönen Page-99-Test-Reihe mit „wohlerzogenen“ Germanistinnen-Augen noch mal staunend über das Phänomen des „uneigentlichen“, also ironischen Schreibens beugt:
>>Ich weiß nicht, woher er Claire kannte,
tatsächlich glaube ich, er kannte sie gar nicht, schlief aber mit einer ihrer Freundinnen –
wobei „Freundin“ nicht das richtige Wort ist,
sagen wir, einer anderen Schauspielerin, die im selben Stück mitspielte.<<
Der Erzähler nimmt alles wieder zurück, was er sagt. Der Krisenkommunikationsexperte hat Claire gekannt, doch dann hat er sie nicht gekannt, sondern nur mit einer Freundin von ihr geschlafen. Und diese Freundin ist keine Freundin, sondern nur eine Schauspielkollegin.
(…)
Wollte ich diesem literarischen Verfahren etwas abgewinnen, könnte ich als wohlerzogene Germanistin darin eine Übereinstimmung von Form und Inhalt erkennen. Wir schauen in diesem Roman einem Mann beim Verschwinden zu, und das obsessiv uneigentliche Sprechen wäre dann gewissermaßen ein Vollzug des Verschwindens.
Nur: Wozu das alles?
4. Und schließlich Alex Rühles großes Fazit auf diese große Frage in der SZ vom letzten Wochenende:
(Die) Einsamkeitspassagen sind streckenweise erschütternd. Gleichzeitig denkt man, na ja, 200 Seiten lang alle nur als Schlampen beschimpfen und dann auf den letzten Metern Einsamkeit und Verlust beklagen, vielleicht besteht da ja ein Zusammenhang. Aber das wäre natürlich wieder nur typisch schwules Pariser Gutmenschengerede.
Und typisch heterosexuelles Berlin-Mitte-Gerede mit eigener Restmeinung am Ende:
Nachdem Knausgård jämmerlich von Bord gegangen ist – lebt laut New Yorker inzwischen in London, hat eine neue Freundin und raucht nicht mehr(!) – ist Houellebecq der letzte Verbündete im Kampf gegen eine wahnsinnig gewordene Gesundheitspolitik in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und privaten Lesens. Darüberhinaus (Gelbwesten, bewaffneter Widerstand usw.) glaube ich ihm natürlich kein Wort und gehe jetzt erst mal gutgelaunt depressiv raus, eine rauchen und zum REWE-City, um mir mit von Houellebecq neu gewecktem Interesse die Sonderangebote anzugucken.
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Das Dilemma des kleinbürgerlichenFeuilletons: es hält "den Schriftsteller" noch immer für eine moralische Instanz und erwartet von ihm keine Literatur, sondern Haltung und "die Beantwortung der drängenden Lebensfragen". Detje sollte bis zum Lebendende nur über den "Tatort" schreiben dürfen. Ich streif mir jetzt meine gelbe Weste über und sammle stinkende Kippen im Hof ein, die den Unkrautwuchs stören.