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Literatur

Buchpremiere in der Pandemie – ein Interview mit Annett Gröschner

Buchpremiere in der Pandemie – ein Interview mit Annett Gröschner

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 08.10.2020
Dein Buch Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten kam im März 2020 bei der Edition Nautilus heraus. Gleichzeitig brach die Pandemie aus, die unser Leben noch immer bestimmt. Was hattest du geplant und was ist daraus angesichts von Corona geworden?


Bei einem Buch, in dem Geschichten aus zehn Jahren versammelt sind, gibt es nicht von vornherein eine Lesereise. Eins ergibt sich aus dem anderen, das funktioniert sonst immer ganz gut. Es gibt kaum Vorschuss für so ein Buch und man lebt von den Lesungen, aber hier fiel alles komplett weg. Die Premiere war in der Volksbühne geplant, Erhard Schütz sollte moderieren, ich hatte mich drauf gefreut. Als klar war, dass die Theater schließen, wollte ich sie in den Berliner Bürgerstuben, der Kneipe, die dem Buchtitel zugrunde liegt, stattfinden lassen, mit einem kleinen Lautsprecher nach draußen auf der Straße. Es hingen schon Plakate in der Kneipe und es hatten sich viele Leute angemeldet, dann kam der Lockdown, die Kneipe schloss. Drei Monate später gab es die Idee von Sabine Zielke vom Roten Salon, dass man die Buchpremiere einfach virtuell macht. Erhard Schütz hat die Fragen geschickt und der Schauspieler Robert Kuchenbuch hat mir gegenüber gesessen und sie gestellt, ich hab geantwortet. Das war eine seltsame Erfahrung, weil er die Fragen erst stur abgelesen hat und dann Interesse an den Antworten bekam, du merkst, wie er interagiert und das plötzlich ein Gespräch wird, ohne dass es seine Fragen sind. Die Texte wurden von Schauspielerinnen und Schauspielern der Volksbühne gelesen.

Wann hast du deine erste echte Lesung vor Publikum gehabt mit dem Buch?

Ich hatte noch eine Zwitterlesung, das war ganz seltsam. Wenn man sich jetzt im Rückblick alle Abstufungen anschauen kann, war das die Lesung, die mich am meisten irritiert hat. Sie war im Literaturforum im Brechthaus geplant, das ist ein kleiner Raum und zu der Zeit durften gar keine Lesungen stattfinden. Wir, die Moderatorin Peggy Mädler und ich, saßen beide im Literaturforum vor den Kameras. Peggy war sehr gut vorbereitet, das Gespräch war gut, aber ich hatte kein Gefühl für den Raum. Ich weiß nicht, wie viele Lesungen ich dort schon gemacht oder moderiert habe, aber ich fühlte mich völlig ausgeliefert. Ich habe gemerkt, wie immens wichtig Zuschauer sind. Wenn es unruhig wird im Raum, musst du dir etwas anderes einfallen lassen, musst vielleicht lustiger werden oder weniger langatmig. Und das fehlte alles, ich wusste nicht, wie viele Stunden sitzen wir jetzt hier eigentlich schon? Habe ich alle gelangweilt? Ich schwamm völlig, draußen war Tag, man sah das Leben vorbeilaufen und mir war die Zeit abhandengekommen.

Und deine erste Lesung mit Publikum?

Die war in Magdeburg, interessanterweise mit einem Berlin-Buch. Es gibt eine Geschichte im Buch über den RE1 in Magdeburg – es gab also eine Verbindung. Meine Schwester arbeitet im Kulturzentrum Feuerwache und ihr waren alle Konzert- und Tanzveranstaltungen weggebrochen. Sie hat im großen Saal eine Lesung für mich organisiert. Sonst stehen dort dicht gedrängt Leute, jetzt saß mal hier und da einer. Fünfundzwanzig Zuschauer, wo sonst dreihundert rumstanden und ich saß ein bisschen verloren auf der Bühne. Aber es war eine Lesung!

Die schönste Lesung war die im La Boheme in der Winsstraße. Das hatte einfach etwas Rührendes! Uschi, die Betreiberin, hatte sich ein Konzept überlegt, das alle Hygieneanforderungen bestand und hatte schon eine Autogrammstunde mit Knut Elstermann veranstaltet, die funktionierte, so haben wir das auch gemacht. Ich habe drin gelesen, mit sechs oder sieben Personen im Raum, der Rest saß draußen auf der Straße. Was ich daran toll fand, war, dass es zwar mit diesem Abstand lief, aber gleichzeitig eine ganz intime Veranstaltung war. Man war sich sehr nah, ohne sich körperlich zu berühren. Das hing natürlich mit dem Raumambiente und der Frau, die das macht, zusammen. Alle waren ausgehungert, weil sie lange nicht bei Veranstaltungen waren. Da war ein Zauber drin. Das Lustige war, dass ich drin mit dem Rücken zur Straße saß und der Verstärker nach draußen übertrug – ich hab in meinem Rücken immer Leute lachen hören und wusste nicht, lachen die jetzt über meinen Text, oder lachen die, weil sie grade vorbeigehen und jemand einen Witz gemacht hat.

Hast du anders geträumt in Corona-Zeiten?

Komischerweise habe ich nicht so viel geträumt wie sonst. Am Anfang hab ich geträumt, dass in der BILD-Zeitung stand, dass Gott, der Erfinder von Corona, gestorben ist. Interessant ist, dass ich keine Angstträume hatte, denn tagsüber hatte ich schon mal Angstzustände, aber das hat sich nicht in die Träume verschoben und das sagt mir, dass die Pandemie (bisher) nicht so existenziell für mich ist. Ich habe einmal im Traum darüber nachgedacht, warum die Leute so wenig Abstand halten und träume zunehmend auch von Menschen, die im Abstand zueinander agieren oder Masken tragen.

Hat dir das Schwimmen gefehlt?

Ja, so schlimm, dass ich körperlich schon völlig eingerostet war. Ich bin viel Fahrrad gefahren, jeden Abend bin ich kilometerweit durch die Stadt geradelt, bis nach Tegel und ins Märkische Viertel. Ich hatte eine Kolumne und hab sie für Stadterkundungen genutzt, bin in absolut entlegene Gegenden gefahren, unter anderem zum Flughafen Tegel – um noch einmal durch dieses Gebäude zu laufen. Ich mag den Flughafen Tegel, alle anderen Flughäfen der Welt kannst du ja nicht voneinander unterscheiden, die sind alle gleich. Aber der Hauptterminal von Tegel war dichtgemacht, selbst die Briefkästen waren ausgehängt. Im Hintergrund bellten die Zollhunde, die nichts zu tun hatten, und alle zwei Minuten kam ein Bus an, wo kein Mensch drin war.

Du warst sehr viel unterwegs, in einer Zeit, wo sich alle zu Hause eingeigelt haben. Hat das was mit dir gemacht als Berlin-Chronistin?

Als Berlin-Chronistin, mal ohne moralischen Unterton, empfand ich es als Geschenk, eine Stadt so zu erleben. Abgesehen von der Angst, den Kindern zu Hause und den schwer Erkrankten – die Stadt so erleben, das war großartig! Man hat es nie, dass eine Stadt leer ist, außer in tiefen Nächten. Ich hab an die Neutronenbombe denken müssen, das ist eine Urangst, die sich mir als Kind eingeprägt hat und die geblieben ist, trotz Abrüstung und Wiedervereinigung. Eine Bombe, die nur das menschliche Leben zerstört und die Häuser stehenlässt. Ein bisschen war es ja so, die Häuser standen alle da, es war sauberer, weil keiner mehr auf der Straße war. Wenn man nur zwischen urbs und civitas unterscheidet, war da nur noch urbs. Die steinerne Stadt. Gleichzeitig war es anders als bei der Neutronenbombe, die Häuser strahlten Wärme ab. Die Hochhäuser, da war abends um sieben, wenn es dunkel wurde, plötzlich überall Licht. Ich hab Filmaufnahmen gemacht, von menschenleeren Straßen.

Was mir die Tränen in die Augen getrieben hat, waren die leeren Straßenbahnen. Die M4, die auf der Greifswalder Straße im Doppeltakt fährt, war komplett leer. Es gab keinen einzigen Fahrgast, nur die Fahrerin. Es war abends um sechs, wo die Bahn sonst immer knackevoll ist. Als Straßenbahnfreundin fand ich das ziemlich furchtbar.

Was lässt dir im Nachhinein an den Berliner Erlebnissen keine Ruhe?

Das waren die Obdachlosen. Ich habe es schwer verkraftet, dieses Gefühl, nicht zu wissen, was mit ihnen ist. Die Obdachlosen bekommen ja die Brosamen derer, die an ihnen vorbeilaufen. Es lief aber niemand an ihnen vorbei. Da habe ich mich gefragt, was ist jetzt mit ihnen? Bei mir gibt es viele, weil ich an einem so unklaren Gelände wohne, ein Gewerbegebiet, eine Poliklinik, wo man gut schlafen kann. Irgendwann war keiner mehr zu sehen und ich fragte mich, wo sind sie jetzt? Vor einiger Zeit saß einer auf dem Weg, als ich im Dunklen vorbeikam, ich hätte ihn beinahe umgefahren, der sagte mir, er wäre im Krankenhaus gewesen. Ich war in dem Moment müde und hatte keine Lust, zu kommunizieren und bin weiter, hab nur „gute Besserung“ gesagt. Am nächsten Tag lag sein ganzes Zeug rum, das war gutes, teures Zeug. Er war wahrscheinlich noch nicht lange auf der Straße. Und es ist niemand mehr hingekommen, über vierzehn Tage lang verschwand eins nach dem anderen und irgendwann stand mit Sprühdose gesprayt R.I.P. - wir werden an dich denken dort. Ich habe gedacht, das galt ihm, aber ich weiß es nicht. Das war ein großes Rätsel, das mich bis heute beschäftigt. Ich denke, wo ist dieser Junge hin, ist er gestorben?

Du hast immer wieder über Kleingärten geschrieben, in Berliner Bürger*stuben ist ein langer Essay über Kleingärten in Ostberlin, jetzt hast du während der Pandemie selbst einen Garten gehabt, wie war das für dich und hat das deinen Blick auf Berlin verändert?

Ich hatte nie einen Kleingarten, ich finde Gemeinschaftsgärten als Idee besser. Aber ich habe Kleingärten immer verteidigt, weil sie Vielfalt in der Stadt bieten. Es ist ja irre, wie viele Pflanzen Teil dieser Stadt sind. Allein die Rosenstöcke, in der Anlage, wo ich war, wenn die alle zur gleichen Zeit blühen, und jeder hat einen anderen – dieses Individuelle hat mich wieder versöhnt mit dem eigentlich Kleinbürgerlichen. Zumal ich einen sehr verwunschenen Garten hatte. Das war Zufall, ich bin jemand, der immer unterwegs ist, jede Woche einmal irgendwo anders ist. Diese Unrast, die ich selbst habe, die kannst du mit einem Garten nicht vereinbaren. Plötzlich war man stillgestellt und konnte überhaupt nicht mehr weg, hing in der Stadt fest – in dem Moment hat mir eine Frau, die gerade nicht in Berlin war, ihren Garten zur Pflege angeboten. Ich hab im Schuppen einen Liegestuhl gefunden, wo Corona Extra drauf stand – da war der Corona-Garten perfekt.

Was eine neue Erfahrung war, obwohl mir klar ist, dass man die Kleingartenflächen schon deshalb nicht bebauen sollte, weil sie zum positiven Stadtklima beitragen, indem sie Feuchtigkeit speichern. Im Hochsommer ist es abends im Garten viel kühler als davor, drei Meter vom Haupttor entfernt ist es zwei Grad wärmer. Das weiß man, wenn man sich mit Klimadaten beschäftigt, aber es ist irre, wenn man das selbst merkt, am eigenen Körper.

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