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Literatur

Kinderbücher 13: Eberhard Binder, der Alexanderplatz und die "historische Mitte" Berlins

Kinderbücher 13: Eberhard Binder, der Alexanderplatz und die "historische Mitte" Berlins

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 11.05.2018

Als schrecklich unter Höhenangst leidendem Kind hat sich mir ein Bild aus einem meiner Kinderbücher tief eingeprägt: zwei Feuerwehrmänner sitzen in einer Luke in der Kugel des Berliner Fernsehturms und halten mit vereinten Kräften ein dünnes Seil fest, das sich ein anderer Mann um den Bauch gewickelt hat, um außen an der Kugel hinabzulaufen und einen Papierdrachen zu retten, der sich hier oben verheddert hatte. Wenn ich zum Fernsehturm hochsah, mußte ich immer an diese Szene denken, zudem fürchtete ich natürlich, daß der Turm umfallen könnte, dann galt es, schnell genug wegzurennen, um nicht von ihm getroffen zu werden. Ich hätte nicht sagen können, in welchem Buch ich das Bild gesehen habe, umso proustmäßiger war das Erlebnis, als ich in den Beständen meiner Eltern zufällig darauf gestoßen bin, es handelte sich um "Frederic" von Peter Abraham (1936-2015) und Eberhard Binder (1924-1998). Das 1973 erschienene Buch ist ein überwiegend im Breitwandformat mit spektakulären Perspektiven illustrierter Roadmovie durch den damals offiziell "Hauptstadt der DDR" genannten Ostteil von Berlin. Am Anfang erschrickt sich das Mädchen Gerti über eine Maus, weswegen sie ihren Drachen Frederic losläßt, den die drei Helden so lange verfolgen, bis der ehemalige Zirkusartist, Dachdecker, Feuerwehrmann und Radrennfahrer Onkel Spatz ihn von der Fernsehturmkugel losknotet. Unterwegs sieht man eine Regattatribüne an der Dahme mit einem Ruderrennen, man sieht das Riesenrad im Kulturpark im Plänterwald, die Schornsteine vom Kraftwerk Klingenberg, die Schiffe der Weißen Flotte, eine Panoramaansicht der Karl-Marx-Allee mit Strausberger Platz, an dem das 1954 eröffnete "Haus des Kindes" steht, mit Kindercafé (in das Erwachsene nur in Begleitung von Kindern durften. Ein ausführlicher und bebilderter Text zur Geschichte des Gebäudes findet sich ausgerechnet auf dieser Website einer Immobilienfirma, die Eigentumswohnungen am Strausberger Platz anpreist, während wir uns noch den Kopf darüber zerbrechen, ob man DDR-Gebäude schön finden darf.) Frederic sieht, wie vor dem Staatsratsgebäude am Marx-Engels-Platz (in dem sich heute die European School of Management and Technology befindet) aus einem Omnibus "eine Gruppe Vietnam-Kinder aussteigt. Die Kinder sind gekommen, um sich für die neue Schule zu bedanken, die ihnen unsere Republik geschenkt hat." Er fliegt an der Neue Wache vorbei, noch mit den bewegungslosen Wachtposten davor, die ihr Gewehr präsentieren (interessanter sind aber die wundervollen, alten Autos aus Frankreich, Ägypten, der Tschechoslowakei und Polen, die hier parken.) Er verheddert sich an der Fernsehturmkugel, und wir sehen eine Panoramaansicht des Alexanderplatzes, der sich in den nächsten Jahren so stark verändern soll, weil hier nun wohl doch ein Dutzend Hochhäuser errichtet werden. Als ich einmal mit meinem alten Comicfreund Mawil über Kinderbücher sprach, die uns geprägt haben, stellte sich heraus, daß er Eberhard Binder als ein Vorbild betrachtet, was mich überrascht hat, aber auf den zweiten Blick durchaus einleuchtet (Belebtheit der Szenen, Detailfülle, Genauigkeit, Heiterkeit). Mir war Binders Stil eigentlich zu "ostig" und nie besonders aufgefallen, aber ich hatte viele Bücher von ihm, ohne daß ich sie immer mit ihm identifizierte. Schon in "Die verhexten Tiere", einem Buch, in dem man Vorder- und Hinterteile von Zootieren kombinieren konnte ("Der Antigei"), gab es witzige Details, die Zoo-Kassiererin auf dem ersten Bild strickt einen krokodilförmigen Pullover für ein Krokodil, auf dem letzten Bild betrachtet ein Wärter eine Mücke, die einen eigenen Käfig hat. Das Buch ist 1965 im kleinen Alfred-Holz-Verlag erschienen und für meine 2.Auflage waren schon 30000 Exemplare gedruckt worden, heute undenkbare Zahlen. Binder hat die DDR-Ausgabe von 1957 von "Die rote Zora und ihre Bande" illustriert. Erst "nachträglich" habe ich mir den "Roten Robert" besorgt, ein wundervolles Wimmelbuch, das, wenn man es so aufmerksam studiert, wie der durch Krankheit immobile Vetter in E.T.A. Hoffmanns "Des Vetters Eckfenster" das Geschehen auf dem Marktplatz vor seinem Fenster "liest" und deutet, die verschiedensten parallel und unabhängig voneinander ablaufenden Geschichten erzählt. Eine besondere Entdeckung war für mich die von Binder illustrierte Version von "Palle allein auf der Welt", einem Buch, das hier schon zur Sprache gekommen ist. Bei Binder bewegt sich der Junge durch eine menschenleere Altstadt mit alten, gelben Straßenbahnen, aber auch hier und da einem Neubaublock. Er trägt kurze Hosen und blaue Stoffturnschuhe, die Bilder sind ungeheuer detailreich und alle Details erzählen etwas (bei "Frederic" zitiert schon der Titelschriftzug die diamantenartige Außenhaut der Fernsehturmkugel). Eberhard Binder gehört zu den Illustratoren, deren Nachlaß in der Berliner Staatsbibliothek archiviert istIrgendwann werde ich mir mal einen Besuch dort schenken.

Das Frederic-Buch wirft aber, wie schon angedeutet, das Problem auf, daß man Texte von damals beim Vorlesen inzwischen kommentieren müßte (was ist ein "Pionierpark"? Warum schenkt "unsere Republik" vietnamesischen Kindern Schulen? Was ist ein "Volkspolizist"? Warum gibt es den Kulturpark und das Kinderkaufhaus nicht mehr?) Es ist eigentlich unglaublich, wieviel sich in der kurzen Zeit verändert hat, obwohl die Objekte und Gebäude im Buch so modern wirken, teilweise moderner als heute, denn besonders ins Bild gerückt wird das "ostmoderne" Gesicht Ostberlins, über dessen ästhetischen Wert oder ideologischen Beigeschmack man natürlich viel diskutieren kann (war das Ahornblatt moderner als das Hotelschließfach, durch das es ersetzt wurde?) Der Fernsehturm dürfte inzwischen unbestritten das bekannteste und beliebteste, touristisch wirksamste Emblem Berlins sein, ich habe eine Sammlung von Dutzenden Beispielen aus der Werbegrafik, die diese Ikone nutzen, gerne natürlich als i-Punkt, einmal aber auch als Dönerspieß, zur Zeit läßt die Sparkasse den Fernsehturm ein Sparschwein küssen. Der Eiffelturm galt in Paris vielen noch Jahrzehnte nach seiner Errichtung als Fremdkörper, nicht anders verhält es sich beim Fernsehturm. Der geschätzte Publizist Friedrich Dieckmann schrieb noch 1992:

"Ich neige der Erhaltung des Palastes [der Republik] auch deshalb zu, weil es einen ungleich wichtigeren Abrissgegenstand im Inneren der Stadt gibt, das ist der Fernsehturm. […] Dieses obszöne Gebilde, […] ist eine architektonische Machtdemonstration von ungeschönter Direktheit, gleichsam das vertikale Korrelat zu der ebenerdigen Mauer. Dem defensiven Grenzbauwerk in seiner linearen Erstreckung trat die Aggressionsgeste dieser in eine Art Schlagbaum ausgehenden Turmnadel zur Seite, deren Sichtbeton vor allem auf West-Berlin berechnet war. Man sollte dort sehen, wer Berlin in der Hand hatte."

(zitiert von Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Fernsehturm#cite_note-65)

Das soll nur zeigen, wie gegensätzlich bei Architektur die Emotionen ausschlagen können. Die Gebäude transportieren am Ende vielleicht weniger Ideologie, als man denken mag, soviel Macht hat Architektur gar nicht. Wer im Telecafé des Fernsehturms Eis ißt, wird nicht ungewollt zum Sozialismus bekehrt. Wenn Hitler uns nicht den Gefallen getan hätte, einen neo-klassizistischen Pomp zu bevorzugen, sondern stattdessen die moderne Architektursprache seiner Zeit, was durchaus denkbar gewesen wäre, hätten wir heute ein peinliches Problem mit dem Bauhaus. Der Alexanderplatz, wie man ihn in "Frederic" sieht, und wie ich ihn als Kind gekannt habe, ist ein Produkt der 60er Jahre. Ob er wirklich ein Produkt der SED-Ideologie ist, halte ich für fraglich, denn zu den Herren paßte sein internationaler Touch überhaupt nicht. Bis heute wird er von manchen als antiurbane, sibirische Leere diskreditiert, was auch deshalb möglich ist, weil so viele Details seiner durchdachten Gestaltung spurlos verschwunden sind. Auf alten Fotos sieht das schneckenförmigen Muster des Pflasters und natürlich der Wabenfassade des Centrum Warenhauses. Der Zustand, in der der Platz für mich als Kind eine Attraktion war ("zum Alex fahren"), hatte natürlich auch schon die Zerstörung seines alten Gesichts vorausgesetzt (durch Krieg und SED-Stadtplanung. Vom demiurgischen Baugeschehen an diesem Ort liest man allerdings schon in Döblins "Berlin Alexanderplatz".) Wie soll man also argumentieren, wenn man das DDR-Gesicht des Alex erhaltenswert findet (werden hier je wieder bezahlbare Wohnungen in "Citylage" gebaut werden, wie es damals geschehen ist? Wobei die natürlich nicht jeder bekam!), aber durchaus der Meinung ist, daß Städte sich verändern dürfen. Wenn man der Debatte über Ästhetik ("historische Mitte Berlins") mißtraut, weil es in Wirklichkeit ums Geschäft geht? 

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Kommentare 2
  1. Annett Gröschner
    Annett Gröschner · vor mehr als 6 Jahre

    Lieber Jochen, Danke für den Palle-Hinweis, diese Ausgabe mit Binder-Zeichungen kannte ich gar nicht, bleibe aber bei meiner Zuneigung für das Gesamtkunstwerk "Paul allein auf der Welt" mit den Zeichnungen von Arne Ungermann. Frederic haben wir unsern Kindern Anfang der neunziger vorgelesen und ich weiß noch, dass ich die Hälfte quasi während des Vorlesens verändert habe. Da flogen ja noch nichtmal die Vögel über die Mauer.

    1. Jochen Schmidt
      Jochen Schmidt · vor mehr als 6 Jahre

      Wahrscheinlich wird es erst richtig kompliziert, wenn die Kinder selber lesen können ...

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