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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
In den 50er und 60er Jahren hat der Oetinger-Verlag eine Reihe schwedischer Kinderbücher auf Deutsch herausgebracht, die man heute teilweise nur noch antiquarisch findet. Die Bücher waren im quadratischen Format, mit Pappeinband, die Farben leuchten immer noch, und vor allem waren sie hervorragend gesetzt. Es waren also wirklich Bücher und keine Gebilde mit abwaschbarem Cover, Glanzpapier und schrecklicher Schrift wie heute leider zu oft. Es ist für mich viel reizvoller, aus einer dieser Originalausgaben vorzulesen als aus Nachdrucken, gerne auch mit Kaffeeflecken, angerissenen Seiten, Widmung an irgendeinen Vorbesitzer oder altem Bibliothekslaufzettel.
Bei "Petter Jönsson und seine Gitarre" finde ich es für ein Buch von 1960 erstaunlich, daß die Geschichte auf einem einfachen Slapstick-Moment beruht. Petter Jönsson findet seine Gitarre nicht, auch nicht, als alle Tiere vom Hof ihm suchen helfen, weil er sie am Riemen über dem Rücken trägt und dort ja nicht sehen kann. Von Astrid Lindgren sind damals in dieser Reihe "Nils Karlsson-Däumling" und "Polly hilft der Großmutter" erschienen. Polly muß für ihre Großmutter, die sich ein Bein gebrochen hat, die selbstgemachten und auch selbst eingewickelten Bonbons (bei Astrid Lindgren essen Kinder nicht selten Zucker und Bonbons) auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen (dafür bekommt sie dann am Weihnachtsabend eine Puppe geschenkt und ist selig). Die Illustrationen zeigen ein idealtypisches Dorf mit Stockrosen, Kopfsteinpflaster und niedrigen, gemütlichen Katen mit hölzernen Vortreppen, auf denen man als Kind sitzen kann (ohne, daß Autos vorbeifahren würden). Es ist aber keine verlogene Idylle, wie bei vielen heutigen Bauernhofkinderbüchern, sondern man meint zu merken, daß die Illustratorin solche Dörfer damals noch gekannt hat. Ebenfalls von Ilon Wikland illustriert, aber von Ann Mari Falk geschrieben, ist "Klaus und Karin im Spielzeugladen", eine Weihnachtsgeschichte für Kinder. Klaus und Karin opfern jeder etwas von ihrem gesparten Geld, um dem anderen heimlich etwas im Spielzeugladen zu kaufen, einem Spielzeugladen, der aussieht wie in der "Blechtrommel" und nicht so wie heute, wo man seine Kinder lieber nicht in diese Opiumhöhlen mit hineinnehmen möchte. Interessant ist für mich die Frage, warum skandinavische Kinderbuchautoren damals in ihrem Verständnis für die kindliche Seele so viel weiter waren als man es bei uns war (man darf ja auch immer wieder darüber staunen, daß der erste Band von "Pippi Langstrumpf" bereits 1945 erschienen ist!) Wie positiv sich wohl die Menschlichkeit, der liebevolle Blick auf Kinder und der Humor, der hier vermittelt wurde, auf die Seelen der Kinder der von Krieg, Prügelschule und patriarchaler Familienhölle traumatisierten Bundesbürger ausgewirkt hat? Ich bin für diesen Kulturtransfer jedenfalls noch im Nachhinein dankbar.
Immer noch im Oetinger-Verlag sind seit den 70er Jahren die Willi-Wiberg-Bände von Gunilla Bergström erschienen, von denen es inzwischen über 20 gibt, mit Millionenauflage und Übersetzungen in viele Sprachen. (Auf Latein gibt es "Quiesce Placide, Alphonse Amnimontane" - "Gute Nacht, Alfons Åberg".) In den meisten Sprachen heißt Willi Wiberg wie im Original "Alfons", auf Polnisch allerdings "Albert", vielleicht weil "Alfons" auf Polnisch ein Zuhälter ist. In Schweden scheint Willi Wiberg immer noch populär zu sein, in Göteborg gibt es sogar ein Alfons-Åberg-Kulturhaus. Die alten Verfilmungen mit einer unaufgeregten, freundlichen Erzählerstimme, ziehe ich dieser neuen und synchronisierten Version allerdings deutlich vor, auch wenn ich leider kein Wort verstehe.
Willi Wiberg ist in den Bänden, die ich kenne, 4-7 Jahre alt, sie sind nicht chronologisch erschienen, man wird aber immer gleich im ersten Absatz über sein Alter informiert. Er trägt meistens einen braunen Wollpullover und eine kurze Hose mit Flicken. Die Seiten sind übersichtlich illustriert, es gibt viel leere Fläche, einzelne Details scheinen aus Illustrierten ausgeschnitten zu sein und wurden als Collage eingefügt.
Willi Wiberg lebt mit seinem Vater in einer gemütlichen Stadtwohnung mit Dielenfußboden, Flickenteppich, Abstellkammer und einem schön unaufgeräumten Kinderzimmer. Der Vater hat eine Halbglatze, trägt zu Hause Pantoffeln, raucht viel Pfeife und sitzt gerne im Sessel und liest Zeitung. Ein Rätsel bleibt, wo die Mutter ist und ob es überhaupt noch eine gibt, das wird einfach nicht thematisiert.
Viele Bände behandeln Standardsituationen des Zusammenlebens von Eltern und Kindern, die man wiedererkennt, aber deren Erzählpotential man vielleicht nicht bemerkt hatte. Das ist für mich die Stärke dieser Bücher, es muß gar nichts erfunden werden, die Geschichte und der Witz ergeben sich schon aus dem genauen Blick auf die Wirklichkeit, deshalb finden sich Kinder (und Erwachsene) in den Geschichten auch leicht wieder. Es passiert eigentlich nichts Besonderes, Willi hat keine herausragenden Eigenschaften, es werden keine Fantasy-Elemente bemüht, aber anders als bei den stumpfsinnigen Conny-Büchern sind die Geschichten trotzdem nie banal, sie sind lakonisch knapp erzählt, und es gibt immer eine Art Pointe, oft erleben Vater und Sohn eine kleine Katharsis, weil sie am Beispiel des anderen etwas über sich selbst verstehen.
In "Gute Nacht, Willi Wiberg", soll Willi schlafen, es fallen ihm aber immer noch Sachen ein, er hat vergessen Zähne zu putzen, er bekommt Durst, der Saft, den der Vater (nach dem Zähneputzen!) bringt, kleckert ins Bett, Willi muß aufs Klo, Willi bekommt Angst vor einem Löwen im Wandschrank, Willi braucht seinen Teddy, bis der Vater auf der Suche nach dem Teddy selbst auf dem Wohnzimmerboden eingeschlafen ist und Willi ihn suchen geht und zudeckt. Wie oft hat man so etwas selbst erlebt, mußte sich mühsam wachhalten, um nicht vor dem Kind einzuschlafen und hat sein Schicksal verflucht, aber wenn man darüber bei Willi Wiberg liest, entspannt man sich wieder. In "Mach schnell, Willi Wiberg", soll Willi sich morgens beeilen, aber er muß noch seine Puppe anziehen, und ausgerechnet jetzt findet er das Rad vom Mercedes, das er so lange gesucht hat, und das er natürlich sofort wieder festmachen muß, und dann will er noch einmal im Tierbuch die grauslige Schlange angucken, aber genau die Seite ist durchgerissen und Willi will sie nur noch schnell kleben (Der Vater klagt laut: "Kinder, die immer 'nur noch' was wollen, machen mich wahnsinnig.")
In "Was sagt dein Papa, Willi Wiberg" räumen Willi und sein Vater in aller Eile die Sachen vom Großeinkauf ein, denn danach soll "Samstagsruhe" sein - eine Stelle, bei der ich immer innehalten möchte, weil Kinder das gute, alte Wochenende in den anstrengenderen Teil der Woche verwandeln -, es gibt eine Banane für Willi und eine Tasse Kaffee für den Vater. Willi setzt sich in die Kammer, um sein Buch "Alle Autos unserer Welt", das er aus der Bibliothek ausgeliehen hat, zu lesen, aber dann tropft ihm Eiscreme auf den Kopf, weil der Vater in der Hektik die Eiscreme in die Kammer und die neuen langen Unterhosen in den Kühlschrank geräumt hat. Dann gibt es eben Unterhosen-Eis, bzw. der Vater backt Waffeln. In "Bist du feige, Willi Wiberg?" will sich Willi in der Vorschule nicht prügeln, wie die anderen, weil er Angst davor hat, dabei ist er stark und mutig. Denn es ist mutig, zu sagen, daß man sich nicht traut, das erkennen auch die anderen an. (Die Erwachsenen sagen "Schlagt euch nicht, Kinder", gucken aber abends Schlägereien im Fernsehen.)
Es geht auch philosophischer, in "Wo bist du, Willi Wiberg?" ist er schon sieben und überlegt, wer er ist. Ist er auch die Wärme, die auf dem Stuhl zurückbleibt, wenn er aufsteht, und wegen der sich die Katze dort niederläßt? Ist er der Geruch von seinem Atem, nachdem er in einen Apfel gebissen hat, und der mit der Atemluft durchs Fenster schwebt, zu den Leuten, die draußen auf den Bus warten, und die plötzlich, ohne zu wissen, warum, Appetit auf Apfelkompott bekommen? Und ist seine Spucke noch ein Teil von ihm, wenn er sie auf die Straße gespuckt hat und längst nach Hause gegangen ist? In "Viel Spaß, Willi Wiberg" überlegen Willi und sein Vater, warum nicht jeder Tag lustig sein kann, wie zu Weihnachten oder am Geburtstag, man könnte die langweiligen Tage doch einfach überspringen. Aber dann wären die lustigen Tage ja auch nicht mehr lustig, es muß auch die Tage dazwischen geben, und eigentlich ist es aufregend, wenn es langweilig ist, weil danach ja bald wieder etwas Lustiges kommt.
Kinderbücher sind oft Produkte ihrer Zeit, vielleicht stärker als Literatur, weil den Autoren so viele Erwachsene, die sich für Experten halten, im Nacken sitzen (Verleger, Lektoren, Buchhändler, Eltern), weshalb man manchmal schon nach einigen Jahren Dinge zu bemängeln hat oder beim Vorlesen erklären muß. Daß in "Das fröhliche Krankenzimmer" (1961 auf Deutsch bei Oetinger erschienen) die Mutter zu Hause bleibt, wenn die Zwillingsschwestern Röteln haben, und der Vater nur abends nach der Arbeit ins Krankenzimmer reinguckt, verdient schon einen Kommentar. (Interessant ist, wie oft Kinder früher in Kinderbüchern die Masern hatten, sogar noch in "Krank sein ist doof" von Manfred Bofinger, das 1989 erschienen ist.) Man könnte auch am wundervollen "Bettina bummelt" von Elizabeth Shaw bemängeln, daß der kleinen Bettina hier das Bummeln abgewöhnt werden soll, dabei wollte sie doch nur für die Mutter Blumen pflücken. Heutigen Kindern möchte man das Bummeln ja gerne wieder angewöhnen, oder ihnen zumindest die Zeit dafür schenken (und das Smartphone wegnehmen). Oder daß in "Der Bär auf dem Motorrad" vom hervorragenden Reiner Zimnik (der gerade nach 60 Jahren wegen Eigenbedarfs aus seiner Münchner Wohnung geklagt wurde) ein Bär im Zirkus leben muß (auch wenn er dann mit einem roten Motorrad abhaut). An Willi Wiberg finde ich bis jetzt noch gar nichts zu bemängeln, eher würde ich ihn mir als Vorbild nehmen. (Allerdings habe ich mich an "Mehr Monster, Willi Wiberg!", "Du siehst Gespenster, Willi Wiberg", "Willi Wiberg und das Ungeheuer" und "Wer rettet Willi Wiberg?" auch noch nicht rangetraut.)
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Ich habe sofort "Das große Buch von Willi Wiberg" gekauft. Das sind vier der Bücher in einem Sammelband. Danke für den Tip!
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Ich frage mich, ob man seinen Kindern ein Buch von Zimnik vorlesen kann, in der Wohnung, wo er das Buch gemalt hat in dem Kinder fliegen können. Fliegen durch Ballons, die man von den Gästen zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Wahrscheinlich daddeln die Kinder den ganzen Tag auf ihren teuren Smartphones herum, so wie die Eltern. Schrecklich.
Danke für diese Buch (Serien) Empfehlung! Die sind mir sind in all den Jahr noch nie untergekommen.
Bei den aktuellen Kinderbüchern gruselt es mich auch oft, und ich muss aus dem Buchladen flüchten. Normale Geschichten über normale Kinder scheint es kaum mehr zu geben, überall Vampire und Magier.
Mir haben vor Jahren mal die Bruno Bettelheim Bücher die Augen geöffnet, Kinder brauchen Märchen! Oder eben einfach gute Geschichten, die sie nicht veräppeln unterfordern oder für dumm verkaufen. Kinder können ruhig mal ein Wort auch nicht verstehen, dann fragen sie den Vorleser, und man kann sich über die Geschichte unterhalten, was ist daran verkehrt.
gerade willi wiberg klingt toll. werde ich versuchen.