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Kurator'in für: Zeit und Geschichte Fundstücke
Michaela Müller, in Dachau geboren, studierte Politikwissenschaften, Zeitgeschichte und Geschichte Asiens in Berlin. Sie schreibt über Menschenrechte, Migration und Ostafrika. Aufenthalte in Kenia, New York, Paris, Somalia und Somaliland. Bücher/Essays: Vor Lampedusa (2015), Auf See. Die Geschichte von Ayan und Samir (2016). Für piqd wählt sie Texte über die Geschichte des Holocaust, Arbeitergeschichte, Migration und Mentalitätsgeschichte aus.
Die Ereignisse um den Truppenabzug der internationalen Gemeinschaft im August und der Machtübernahme der Taliban sind traumatisch. Wie diese in Zukunft ihre Herrschaft ausüben werden, auch wenn die Aufmerksamkeit, die jetzt noch auf das Land gerichtet ist, nachlässt, darüber kann derzeit nur spekuliert werden.
Wie aber legitimieren sie ihre Herrschaft? Adam Baczko hat dazu ein Buch vorgelegt, „La guerre par le droit – Les tribunaux Taliban en Afghanistan“ erschienen bei CNRS Éditions. In dem Interview spricht er über historische und soziologische Wurzeln.
Baczko bescheinigt den Rechtsgelehrten, den Ulama, zunächst starke soziologische Kohärenz, die auch das Rückgrat ihres jetzige Netzwerks bilden: Die meisten von ihnen sind konservative Männer vom Land und wurden in den 1980er Jahren in den Madrasas, das sind religiöse Schulen an der Grenze zu Pakistan, ausgebildet, die sie von der Grundschule bis zum Hochschulabschluss besuchten.
Die Schulen gehören der Deobandi-Bewegung an, die ab 1867 als Widerstandsbewegung auf die Rechtssprechung der Briten in Pakistan, die den islamischen Richtern die Macht entzogen hatten, entstanden sind.
Die Bewegung stützt sich also auf eine doppelte Grundlage: zum einen die Rückkehr zur religiösen Legitimation, die eine Form des Fundamentalismus speist - eine Rückkehr zu den Grundlagen des Glaubens, verbunden mit einer wörtlichen Auslegung der heiligen Texte.
Über ihre Herrschaft von 1996 bis 2001 sagt Baczko:
Um die Ordnung in Afghanistan wiederherzustellen, argumentieren sie wie Richter: Das individuelle Verhalten muss reguliert werden, die Afghanen müssen umerzogen werden, indem alle alltäglichen Dinge durch das Gesetz kontrolliert werden. (…) Es ist eine Bewegung, die ihre Zeit damit verbringt, Normen zu schaffen, bis ins Absurde hinein: Es ging so weit, Krebse und Hummer zu verbieten – in einem Land, das allerdings keinen Zugang zum Meer hat.
Diese Vorstellung, Ordnung bis ins kleinste Detail herstellen zu wollen, in einem Land, deren Menschen von einem jahrzehntelangen Krieg traumatisiert sind und der Wunsch nach Stabilität und Sicherheit groß, hat so auch Unterstützer gefunden.
Als totalitäre Bewegung würde Baczko die Taliban nicht bezeichnen:
Es handelt sich um eine zutiefst konservative, patriarchalische Bewegung, die ihre Vorstellung von Gesellschaft sehr brutal durchsetzt, aber nicht versucht, in den privaten Raum einzudringen, wie es die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts taten.
Empfohlen sei zudem der Film „Ghosts of Afghanistan“, der Interviews mit afghanischen Politiker*innen, Aktivist*innen und Taliban bis zum Juni zeigt.
Quelle: Adam Baczko, im Interview mit Nicolas Gastineau, Übersetzung Grit Fröhlich Bild: Philosophie Magazin www.philomag.de
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Ein sehr guter Artikel. Allerdings sind, entgegen der Ansicht von Adam Baczko, die Taliban meiner Ansicht nach sehr wohl eine totalitäre Bewegung. Hannah Ahrendt beschreibt Totalitarismus als den Versuch, einen „neuen Menschen“ gemäß einer bestimmten Ideologie zu schaffen. Die Taliban, so wie Baczko sie kenntnisreich beschreibt, sind geradezu ein Paradebeispiel dafür.