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Zeit und Geschichte

Eine diplomatische Affäre behindert das Gedenken an Weltkriegsopfer

Lutz Müller
Diplomökonom

Geboren 1956. Längste Schulzeit in Döbeln/Sachsen. Statistikstudium in Odessa. Tätigkeiten für verschiedene statistische Institutionen im In- und Ausland, Schwerpunkt Wirtschaftsstatistik und Beratung im Transformationsprozess. Un-Ruhestand in Berlin.
Kontakt: [email protected]

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Lutz MüllerFreitag, 04.11.2022

Der Artikel handelt von ungelösten Problemen eines zerfallenen Staates mit einer menschlichen und geopolitischen Dimension, die bis heute nachwirken.
Es geht um ein Grab von Weltkriegsopfern in Bremen und eine diplomatische Affäre, die ein würdiges Gedenken an die Toten gefährdet. Viele von ihnen stammten aus der Sowjetunion, vor allem aus Russland und der Ukraine.

Frederik Schindler, Redakteur im Ressort Innenpolitik, berichtet in der WamS vom 9.10.2022 unter dem Titel „Letzte Unruhe“ über Ausgrabungen im Bremer Ortsteil Oslebshausen unter Leitung der Landesarchäologin Uta Halle.

Ihre Promotion verfasste sie über die Keramikherstellung im Mittelalter. Für ihre Habilitation untersuchte sie, wie die Nationalsozialisten die Archäologie für ihre Propaganda missbrauchten. Nun, kurz vor der Rente, ist sie in eine Auseinandersetzung hineingezogen worden, die im Schatten eines europäischen Kriegs spielt.
In den vergangenen Monaten gruben Halle und ihre Leute … erst einzelne Menschenknochen aus, wenig später auch Skelette. Es sind die Gebeine von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus dem Zweiten Weltkrieg, von Soldaten und Zivilisten aus der Sowjetunion.
Nach Auflösung des Friedhofs in den späten 1940ern gerieten die Gräber in Vergessenheit. Anfang 2021 verkündete das Land Bremen, dass der französische Konzern Alstom dort ein Bahnhofsdepot zur Wartung von Regionalzügen bauen soll. Anwohner und Bürger begannen, sich für das Gelände zu interessieren. In Archiven stießen sie auf Hinweise zu dem dort 1941 errichteten Friedhof, den die Nazis "Russenfriedhof" nannten.
Seither achten Spitzendiplomaten [Russlands und der Ukraine] darauf, was in Bremen vor sich geht. Sogar der ukrainische Außenminister hat sich eingeschaltet.
Beschrieben wird die akribische Arbeit des Teams der Landesarchäologin und des Staatsarchivars Konrad Elmshäuser. Die Stadt Bremen hat die schier unlösbare Aufgabe als Vermittlerin zwischen zwei verfeindeten Ländern, bei der es gilt, den Interessen beider und einem würdigen Gedenken an die Toten gerecht zu werden. Und für das arme Bundesland soll auch die Planung einer Wirtschaftsansiedlung mit rund 100 Arbeitsplätzen ermöglicht werden. Die Bremer Repräsentant*innen
finden sich … in Rollen wieder, die derzeit selbst Staatschefs überfordern.
Man könnte auch sagen, sie sollen eine Antwort finden auf die Frage, wie eine Stadt in einer verzwickten Lage ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft gerecht wird.

Bereits nach der russischen Annexion der Krim sei es unmöglich gewesen, Verhandlungen mit Diplomaten beider Länder in einem Raum zu führen. Jetzt will sich der Generalkonsul der Russischen Föderation in Hamburg, Andrej Scharaschkin, nur per E-Mail äußern.

Er schreibt: "Unser Anliegen ist es, dass die Überreste an einem ehrenvollen und der Toten würdigen Platz ruhen."
Die Generalkonsulin der Ukraine in Hamburg, Iryna Tybinka, wünscht sich in ähnlicher Weise eine ehrenhafte Umbettung z. B. auf die zentrale Kriegsgräberstätte im Bremer Stadtteil Osterholz. Das Bahndepot könne dann eine Gedenktafel zur Erinnerung anbringen. Aber sie sagt auch: 
"Russland hat jegliche Rechte verloren, sich zu den Ausgrabungen zu äußern und irgendwelche Ansprüche zu erheben." Wie Tybinka es sieht, hat die russische Regierung keine Argumente, als alleinige Nachfolgerin jener Sowjetunion aufzutreten, die vor fast acht Jahrzehnten den Nationalsozialismus besiegt hat. Russland denke und handele ja selbst "nach dem Vorbild Hitlerdeutschlands". Solange Wladimir Putin in Russland regiere, solle Bremen nicht mit seinen Abgesandten verhandeln. 
Andrej Scharaschkin schreibt dagegen in seiner Mail: "Alle Kriegsgefangenen waren sowjetische Staatsbürger. Sie hatten diverse Nationalitäten, aber eine staatliche Zugehörigkeit." Der Konsul verweist also darauf, dass Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR auftritt...

Mit Hilfe von 180 in den Gräbern gefundenen Erkennungsmarken wurde inzwischen die Identität von 127 Personen geklärt. Nun könnten die Erkennungsmarken mithilfe einer im russischen Verteidigungsministerium angesiedelten Datenbank den Karteikarten von Kriegsgefangenen zugeordnet werden und die Angehörigen nach vielen Jahrzehnten erfahren, was mit ihren Vätern und Großvätern in Bremen passierte.

***Soweit die Zusammenfassung des langen Artikels mit vielen weiteren Details. Aus Platzgründen gehe ich weiter unten der Frage nach, was es eigentlich mit der Rechtsnachfolge der UdSSR auf sich hat und wie sie im Äther der Diplomatie und der Medien herüberkommt.

Eine diplomatische Affäre behindert das Gedenken an Weltkriegsopfer
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Kommentare 1
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

    Ergänzend meine Gedanken zum Streitapfel UdSSR-Rechtsnachfolge.

    Einige Jahre lang hatte ich beruflich mit Menschen aus allen 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu tun. Die Frage schien mir nie sauber geklärt gewesen zu sein. Insbesondere bekamen dies die ehemaligen Sowjetbürger in der Praxis im Verhältnis zu ihren Staaten zu spüren. Und nun betrifft es auch das Andenken an die Toten.

    Die USA betrachteten von Anfang an die Russische Föderation als Nachfolgerin der UdSSR, wie das Office of the Historian, Foreign Service Institute des US-Außenministeriums lapidar erklärt: https://history.state....

    Auf der Website des Instituts für Weltgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Ukraine schreibt Prof. Liudmila D. Chekalenko, dies sei die einzige Antwort auf die Frage, es gebe keine andere rechtliche Grundlage oder kein anderes Dokument, auf dem die Nachfolge beruhen könnte. Die USA hätten Russland de facto als Rechtsnachfolger anerkannt in erster Linie wegen ihrer Angst vor dem Nuklearstatus der Sowjetunion (in englischer Sprache im unteren Teil der Seite):
    https://ivinas.gov.ua/...

    Die internationale Gemeinschaft schloss sich dem an, indem Russland den sowjetischen Sitz im UN-Sicherheitsrat einnahm. Russland übernahm auch den überwiegenden Teil des sowjetischen Auslandsvermögens und erklärte, für Verbindlichkeiten der UdSSR einzutreten.

    Das Auswärtige Amt erklärt auf eine Anfrage hin:
    https://fragdenstaat.d...
    "Die Bundesrepublik Deutschland geht weiterhin davon aus, dass die Russische Föderation die Sowjetunion fortsetzt, also von einer staatlichen Kontinuität zur Sowjetunion auszugehen ist. Alle anderen 11 Republiken sind in ihrem jeweiligen Bereich Rechtsnachfolger der Sowjetunion."
    (Warum nur 11, und nicht alle anderen 14, erschließt sich mir nicht, denn auch die baltischen Republiken wurden zuallererst einmal für die ehemaligen sowjetischen Staatsbürger auf ihrem Gebiet rechtlich zuständig.)

    Den WamS-Artikel habe ich auch deswegen gepiqt, da diese schwierigen Fragen in den Medien unzureichend und ungenau dargestellt werden.

    Das ARD-Mittagsmagazin am 21.10. brachte ein Interview mit einem ehemaligen NVA-Offizier, einem Russland-Verehrer. Er sagt, Russland sei ja der Rechtsnachfolger der Sowjetunion, und diese hätte niemals Hegemoniebestrebungen gehabt.

    Die ZDF-Auftragsproduktion „Die 90er - Jahrzehnt der Chancen (1/3)“ aus 2019 wurde vor wenigen Wochen – ich glaube auf ZDF-info – erneut ausgestrahlt. Im Bericht über den Zerfall der Sowjetunion heißt es in der 31. Minute:
    „… Am Ende ist die Sowjetunion Geschichte, Russland tritt die Rechtsnachfolge an.“
    www.zdf.de/dokumentati...
    Klingt fast triumphierend.

    Als Nicht-Jurist kann ich keine Artikel des Völkerrechts beibringen, die die eine oder andere Position bestätigen oder widerlegen. Aufklärungsarbeit in den Medien sehe ich von Nöten.

    Russland als Staat hat aktuell seinen Anspruch an gemeinsames Gedenken mit den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion an gemeinsames Leid und den Sieg über den Hitlerfaschismus verwirkt.

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