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Kurator'in für: Europa Fundstücke Kopf und Körper
Ich lebe in Marburg und schreibe über Gesundheit und Gesundheitspolitik.
Hat die Corona-Pandemie – oder haben gar die Maßnahmen – etwas damit zu tun, dass so viele Menschen gerade mit Atemwegserkrankungen kämpfen? Vor allem Kinder sind vergleichsweise stark betroffen. Bei ihnen spielt das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) eine große Rolle. Besonders im vergangenen Herbst mussten deswegen deutlich mehr Kinder als üblich im Krankenhaus behandelt werden. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet, dass auch die Grippewelle in diesem Jahr auffällig früh einsetzt. Die Befürchtung ist, dass sie in diesem Winter vergleichsweise schwer verlaufen könnte. Und auch mehr Kinder ins Krankenhaus bringen könnte.
Als Erklärung dafür wird im Internet ein Begriff gehandelt, der bis 2020 nicht in der wissenschaftlichen Literatur auftaucht: Immunschuld. Dahinter verbirgt sich der Glaube, dass das Immunsystem nicht mehr so potent ist, wenn es nicht regelmäßig Kontakt zu Viren, Bakterien, Pilzen und Kram hat. Oder anders gesagt: Wenn das Immunsystem nicht regelmäßig mit Krankmachern zu tun hat, verliert es die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen. Manche meinen, dass zwei Jahre Maske tragen und die geschlossenen Schulen und Kindergärten daran schuld sind, dass Atemwegsinfekte jetzt boomen.
Doch für die Idee, dass das Immunsystem durch die Maßnahmen geschwächt wurde, fehlen die Belege. Obwohl die Sache mit dem Trainingseffekt durchaus eine Rolle spielt – aber anders.
Friedrich Reichert, Oberarzt der Pädiatrischen Interdisziplinären Notaufnahme am Klinikum Stuttgart, sagt: "Das Immunsystem funktioniert super, auch nach den Maßnahmen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ausbleibende Infekte das Immunsystem irgendwie schwächen würden." Der "Trainingseffekt" ist also keiner, der nötig wäre - doch es gibt ihn trotzdem.
Liegt die letzte Infektion lange zurück, kann man sich wieder leichter anstecken. Man wird für diesen einen Erreger, den das Immunsystem lange nicht gesehen hat, empfänglicher. Wenn es vielen Menschen auf einmal so geht, kann es eine spürbare Welle geben. Das ist vergleichbar mit dem Effekt, den ein ganz neues Virus hat, wenn es auf eine immunnaive Bevölkerung trifft. Auch wenn sich die Intensität des Effekts natürlich unterscheidet.
Was in der Pandemie sehr vielen Menschen sehr schwerfiel zu verstehen, ist, dass Erreger auf zwei Ebenen wirken: auf der individuellen und auf der gemeinschaftlichen. Beide Ebenen stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander. Deshalb macht es einen Riesenunterschied, ob ein Virus in einer durch Impfungen geschützten Bevölkerung läuft oder in einer, in der viele oder die meisten Mitglieder keinen oder kaum Kontakt zum Erreger hatten.
Da die meisten von uns lange genug keinen Kontakt zu Influenza-, RS-Viren und Co. hatten und sich die Viren in dieser Zeit weiterentwickelt haben, besteht eine Immunitätslücke: Zu wenig Antikörper im Blut, die passen (und noch einige andere Effekte, die mit dem "Gedächtnis" des Immunsystems zu tun haben). Diese Lücke kann auf der gemeinschaftlichen Ebene unbedeutend sein, aber auf der individuellen ins Kontor schlagen – oder auch anders herum. So wie letztes Jahr bei RSV – und vielleicht in diesem Jahr bei der Influenza. Ob das wirklich so kommt, ist nicht klar, dazu hier ein guter Text von Lars Fischer und hier ein paar Einschätzungen von Expert:innen.
Kurz: Wie schwer die Grippewelle wird, lässt sich im Vorhinein nicht sagen, aber es gibt Hinweise von der Südhalbkugel, dass es eine früh einsetzende, vergleichsweise große Welle geben könnte, die aber auch schnell wieder abebbt. Und: Dass es Kinder und Jugendliche schwerer erwischen könnte, als man das von der Grippe kennt. Das hat viel damit zu tun, wann im Leben die ersten Kontakte mit einem Erreger stattfinden. Und wie der Impfstatus für einzelne Erreger ist (für die Influenza wird von der Stiko eine Impfempfehlung für die Kinderimpfung schon länger erwartet).
Warum also gerade so viel los ist in Sachen Schnupfen, Husten und so weiter, erklärt der Text, den ich hier piqe sehr gut. Und auch die Rolle, die das Sars-CoV-2-Virus beim Infektionsboom spielen könnte. Denn einige Expert:innen vermuten, dass das Coronavirus – wie andere Viren auch – langfristige Folgen für das Immunsystem haben könnte. Das ist zum Beispiel für das Masernvirus gut belegt. Aber auch für das Influenzavirus. Beim Coronavirus ist es bislang nur eine Theorie. Aber eine plausible.
Quelle: Yasmin Appelhans, Korinna Hennig Bild: NDR www.ndr.de
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Ich finde, da gibt es so viel zu klären, und ich weiß selbst nicht, ob ich alles richtig verstanden habe. Aber weit verbreitet ist offenbar immer noch die Vorstellung, dass das Immunsystem Infekte "abarbeiten" muss, um "stark" zu sein. Ich finde den Stolz, den Leute auf ihr "starkes Immunsystem" haben, extrem seltsam. Interessant finde ich auch, dass die vielen Infekte bei Kindern gerade eine Verschiebung bedeuten, nicht eine Folge schwächerer Immunsystem. Richtig?