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Kurator'in für: Europa Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953
Studium der Elektrotechnik und Elektronik
Forschung / Lehre auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Innovationstheorie
Entwicklung von Forschungsprogrammen im IKT-Sektor für verschiedene Bundesministerien und Begleitung der Programme und Projekte - darunter Smart Energy, Elektromobilität, netzbasiertes Lernen, Industrie 4.0
Nun im Un-Ruhestand
Ob beim Klimawandel, der Migration, der Globalisierung oder dem Kapitalismus, über all wird gern (mit großer Geste) die große Transformation gefordert. Aus der sich dann ableitet, was "wir" tun müssen. Doch unsere modernen Gesellschaften sind träge, bewegen sich in eher kleinen Schritten. Sie lassen sich nicht steuern wie Autos, die nach links fahren, wenn man das Lenkrad in diese Richtung dreht. Planwirtschaftliche Großumbauten scheitern regelmäßig an neuen und ungewollten Problemen. Aus der realen oder empfundenen Dringlichkeit läßt sich nicht wirklich auf die Möglichkeit schließen.
Zu diesen Fragen hat der Soziologe Armin Nassehi (wieder einmal) ein spannendes Buch geschrieben - „Kritik der großen Geste. Anders über die gesellschaftliche Transformation nachdenken“. Dazu im Vorwort:Dieses Buch misstraut der großen Geste und schickt sich deshalb an, wenn überhaupt, anders über Transformation nachzudenken. Anders heißt nicht: eine andere große Geste, sondern eher, über den Eigensinn jener Gesellschaft nachzudenken, in der etwas stattfinden soll, was Transformation genannt wird. Alles, was transformiert, gesteuert, verändert, verbessert werden soll, reagiert auf entsprechende Versuche und Eingriffe mit seinen eigenen Mitteln. Um diese Mittel soll es hier gehen. Das Buch bietet keine Lösungen für Krisen an und nimmt keine explizite politische Position dazu ein, sondern fragt danach, in was für einer Welt solches stattfindet.Wobei es mich schon verwundert, dass es einen Sozialwissenschaftler wie Nassehi braucht, der seine Disziplin auf die komplexen Funktionsweisen des Forschungsgegenstandes "Gesellschaft" aufmerksam machen muß. Ähnliches gilt auch für die politische Klasse. Jeder Handwerker, jeder Ingenieur etc. weiß eigentlich, dass man seinen Gegenstand sehr genau analysieren und durchschauen muß, um Großes zu erreichen. Mit großen Gesten und abstrakten Begriffen fliegt man nicht zu den Sternen. Vielleicht auch ein Grund für das Unbehagen über die intellektuellen und politischen Eliten?
mutet zunächst einfach an: Moderne Gesellschaften sind keine „Gemeinschaften“, die sich als kollektives und kollektiv handlungsfähiges Subjekt charakterisieren lassen. Auch der Staat beziehungsweise das politische System ist nur ein Teilsystem unter anderen und lässt sich nicht als Verkörperung einer kollektiv handlungsfähigen Gesellschaft begreifen. Die moderne Gesellschaft stellt vielmehr das Ensemble funktional ausdifferenzierter und untereinander nur lose gekoppelter Teilsysteme dar, die sich in ihren Operationen allein an den je eigenen Codes und Programmen orientieren: Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Bildung, Kunst.Bekanntlich enthält die Luhmann’sche Theorie eine Schwachstelle:
Wie lässt sich die Einheit der Gesellschaft jenseits der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme genauer fassen? Wie lässt sich erklären, dass es durchaus so etwas wie eine begrenzte Synergie der Teilsysteme geben kann, die verhindert, dass sie sich verselbständigen und in alle vier Himmelsrichtungen davonmarschieren? Von Luhmann eingeführte Formeln wie „Interpenetration“ oder „strukturelle Kopplung“ bleiben diffus und unbefriedigend.Nassehi knüpft genau hier an erste Gedanken bei Luhmannan an. Er verweist auf die Rolle der individueller Akteure, die dieser als „psychische Systeme“ definiert. Und die er als Umwelt der funktional differenzierten Gesellschaft etwas verschwommen darstellt und stiefmütterlich behandelt hat. Der Gedanke, mit dem dem Nassehi hier über Luhmann hinausgeht ist folgender:
Unter der Formel der „individuellen Freiheit“ bürden moderne Gesellschaften den Individuen faktisch erhebliche Integrationsleistungen auf, die die Beteiligten enorm fordern und vielleicht überfordern. Immerhin pflegen die Individuen ja Mitgliedschaften in verschiedenen sozialen Systemen, sie „individuieren“ sich überhaupt erst, indem sie sich in je unterschiedlichen Kombinationen solcher Mitgliedschaften engagieren. Sie müssen die Rollen, die sie in heterogenen Systemen einnehmen, in ihrer Person verbinden und stellen so auf biografisch-lebenspraktischer Ebene Zusammenhänge zwischen den Systemen her, die den Systemen selbst nicht präsent sind – das kann sehr anstrengend sein.Überzeugungen bilden sich also in den individuell differenzierten Lebenswelten der "psychischen Systeme" heraus. Sie kommen i.d.R. nicht von außen, nicht von irgendwelchen bösen externen Gruppierungen sondern sind ein Amalgam aus Erfahrungen, gelernten Wissensbrocken oder Theorien und natürlich der Kommunikation mit der konkreten Umwelt.
Schließlich verfügen die Bürger/innen in Demokratien über ein eigenes, systemübergreifendes Medium kommunikativer Vernetzung: die Öffentlichkeit – …. Typischerweise ist es auch das Medium der Öffentlichkeit, in dem systemübergreifende gesellschaftliche Krisen sichtbar gemacht, kommuniziert und starke Botschaften in Gestalt „großer Gesten“ verkündet werden.Aber Vorsicht, die in der Öffentlichkeit kursierenden Einsichten, Forderungen, Botschaften dürfen/sollten nicht
mit den die alltägliche Lebenspraxis der Individuen leitenden Präferenzen gleichgesetzt werden. Ungeschützt könnten die Individuen die Komplexität einer modernen Gesellschaft gar nicht aushalten.Diese Öffentlichkeit besteht also aus vielen Teilöffentlichkeiten in Form von Kommunikationsblasen, Interpretationsgemeinschaften, Interressensgruppen etc., die dann in und über die ausdifferenzierten Teilsystemen moderner Systeme "aufeinanderprallen". Was immer wieder ungewollte Nebenwirkungen und Rückkopplungen hervorruft. Und im Laufe der Evolution immer öfter den Eindruck von Kontrollverlust aber auch Trägheit von modernen Gesellschaften generiert. Was wiederum zu Empörung, Protesten und Politikverweigerung führt. Und wieder Vorsicht:
Die hohen Erwartungen an die Öffentlichkeit scheitern nicht nur an dem faktisch in die Lebenswelt der Individuen eingebauten Konservativismus, sondern noch aus einem weiteren Grund: Die Öffentlichkeit ist nicht die Gesellschaft, als die sie sich gern inszeniert.Harry Nutt schreibt in seiner Rezension in der FR daher:
Vorsicht also, wenn im Modus der Empörung von Kontrollverlust und Systemversagen die Rede ist, die sich als Kraft-durch-Nörgeln-Bewegung etabliert. Gegen die vielfältigen Ausdrucksformen der Modernitätsverweigerung schlägt Nassehi eine Logik der kleinen Schritte vor, die darauf setzt, den Widerständen und Beharrungskräften begegnen zu können, die mit Anpassungsnotwendigkeiten und -erwartungen in drohenden und nachholenden gesellschaftlichen Veränderungen einhergehen.Das erinnert mich doch erfreulich an Popper's Sozialtechnologie der kleinen Schritte. Schön, wenn Gedanken nicht ganz verloren gehen.
Erstens: Auch wenn Nassehi diesem Eindruck entgegenzuwirken versucht, bleibt der Tenor seiner Analyse am Ende durchaus pessimistisch, beinahe defätistisch: Verzichtet auf „große“, aber vergebliche Botschaften, so rät er den politischen Akteuren, und konzentriert Euch stattdessen auf die kleinen, aber vielfältigen und deshalb viel wirksameren Maßnahmen. Aber könnte man, ohne die Substanz der Thesen Nassehis preiszugeben, die Argumentation nicht genau umgekehrt aufbauen und ihr damit eine weniger defätistische Färbung geben? Das Argument würde dann lauten: Die „großen“ Botschaften sind keineswegs überflüssig.Ja, wir brauchen natürlich große Ziele, solange sie die konkreten kleinen Schritte nicht einengen, vorformatisieren und solange sie flexibel bleiben für Anpassungen an den real ablaufenden historischen Prozess
Nassehi hält, … , von Kapitalismuskritik nicht viel. Und wer wollte ihm darin, dass unter diesem Etikett viel Unsinn verbreitet wird, widersprechen? ….. Das „ökonomische System“, wie er es nennt – ich selbst würde lieber mit Hayek von einem Marktsystem sprechen, besser: von einem System entgrenzter Märkte – ist eben nicht bloß ein System wie jedes andere. Es ist nicht nur viel stärker als die anderen Systeme – selbst als die Wissenschaft – global ausgerichtet, sondern durchdringt die Gesellschaft via Social Media bis in ihre letzten Winkel und privatesten Regungen. Doch auf diese Phänomene geht Nassehi kaum ein.Aber das Wirtschaftssystem einer Gesellschaft, auch wenn man es kapitalistisch nennt, ist nicht nur ein Marktsystem und schon gar nicht allein ein System entgrenzter Märkte. Es ist sowohl durch politische und soziale Regeln begrenzt, als auch durch Ressourcen und Absatzmärkte. Man kann Grenzen verschieben, qualitativ oder quantitativ verändern aber nicht abschaffen. Ein System ohne Grenzen ist per Definition kein System mehr. Und weiter:
Kapitalismus, wenn man darunter ein System entgrenzter Märkte versteht, unterwirft die ganze Gesellschaft den ihm inhärenten Wachstumsimperativ. Nassehi hält dem entgegen, auch die anderen Systeme – von der Wissenschaft, der Politik bis hin zur Kunst – müssten wachsen und hätten keine eingebauten Stoppregeln. Das mag sein, aber um wachsen zu können, brauchen sie alle erst einmal eines: mehr Geld. Das freilich können sie nicht mit eigenen Mitteln generieren.
Jede dynamische Gesellschaft stellt mit ihren Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialsystemen, nicht allein über das Medium Geld, Anforderungen an das Wirtschaftswachstum und natürlich umgekehrt. Natürlich ohne Wirtschaft ist eine Gesellschaft letztendlich zum Tode verurteilt. Oder wie Engels mal geschrieben hat:
Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter lnstanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.
Was andererseits heißt, ohne die anderen dynamisch funktionierenden gesellschaftlichen Teilsysteme kann Wirtschaft nicht funktionieren und die Gesellschaft stirbt genau so - an multiplem Organversagen.
Quelle: Christoph Deutschmann Bild: screenshot shop www.soziopolis.de
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Ein "wir", welches wir brauchen?
"Es ist die Suche nach einem verlorenen Wir, auf die sich Vance begibt – auch wenn dieses Wir in der Anhängerschaft Trumps eng gefasst ist. Wer ihr Weltbild nicht bedingungslos teilt, wer ihrem Bild eines echten Amerikaners nicht entspricht, der ist ihr Feind.
Es ist eine konservative Antwort auf einen drohenden Zerfall der Gesellschaft, der auch Wissenschafterinnen und Wissenschafter umtreibt. Viele von ihnen sehen im Verlust von Gemeinschaft eines der grössten Probleme moderner Demokratien. Individualismus, der Bedeutungsverlust von moralischen Instanzen, das Gefühl der Entwurzelung, das durch die heutigen Lebensformen bei vielen Menschen akut ist: All dies trägt zu einer Fragmentierung der Gesellschaft bei. Zu einer Abwesenheit von Räumen, in denen sich Menschen begegnen, aber nicht nur unter Gleichgesinnten.
Wer in einer Diktatur der Mehrheit zu leben glaubt, vertraut nicht mehr auf die Macht der eigenen Stimme, sondern auf Gewalt.
Wir brauchen wieder Orte, in denen wir einander aushalten müssen, schreibt die deutsche Verfassungsrechtlerin Sophie Schönberger in ihrem 2023 erschienenen Buch «Zumutung Demokratie». «Die aktuelle Krise der Demokratie ist auch eine Krise der Gemeinschaft, des Einanderaushaltens und des Zusammenfindens.» Begreife sich jemand nicht mehr als Teil dieser Gemeinschaft, sei es nicht mehr weit bis zum Gefühl, in einer «Diktatur der Mehrheit» zu leben. Und wer glaubt, in einer Diktatur zu leben, vertraut nicht mehr auf die Macht der eigenen Stimme. Sondern im schlimmsten Fall nur noch auf Gewalt.
Was gegen dieses Gefühl der Ohnmacht hilft, ist ein politisches System, das der Stimme des Einzelnen möglichst viel Gewicht gibt – so wie in der Schweiz, wo auch die umstrittensten Themen in Volksabstimmungen über Sachfragen verhandelt werden.
«Man muss das Gespräch so weit wie möglich auf das wirkliche Leben konzentrieren, nicht auf Fragen der politischen Identität», sagte die amerikanische Historikerin Anne Applebaum diese Woche in einer Gesprächsrunde des Magazins «The Atlantic». Wer über den Bau von Strassen, Schulen oder die Gesundheitsversorgung streite, könne sehr unterschiedlicher Meinung sein: «Aber wir werden uns deswegen wahrscheinlich nicht gegenseitig umbringen.» …"
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Armin Nassehi ist ein anregender Soziologe mit Tendenz nach unten. Neben seiner Lehrtätigkeit schreibt er jährlich ein Buch. Das ist zuviel, aber ich beobachte ihn weiter. Deshalb las ich schon die Kritik von Christoph Deutschmann auf Soziopolis. Der Schlussabsatz wirkt auf mich wie eine Lesewarnung:
Kapitalismus, wenn man darunter ein System entgrenzter Märkte versteht, unterwirft die ganze Gesellschaft den ihm inhärenten Wachstumsimperativ. Nassehi hält dem entgegen, auch die anderen Systeme – von der Wissenschaft, der Politik bis hin zur Kunst – müssten wachsen und hätten keine eingebauten Stoppregeln. Das mag sein, aber um wachsen zu können, brauchen sie alle erst einmal eines: mehr Geld. Das freilich können sie nicht mit eigenen Mitteln generieren. Es muss vielmehr, auf welchen Wegen auch immer (Steuern, private Stiftungen, Spenden) aus der Wirtschaft abgezweigt und ihnen zugewiesen werden. Aufgrund der gemeinsamen Abhängigkeit vom Medium Geld entsteht eine latente Abhängigkeit der nichtwirtschaftlichen Subsysteme von der kapitalistischen Wirtschaft, die sich mit den von Nassehi gezeichneten holzschnittartigen Konzepten der „Hierarchie“ oder gar „Monarchie“ (Kapitel 6) nicht fassen lässt: Krankenhäuser bevorzugen die finanziell lukrativen Behandlungen, die Wahlchancen von Politikern hängen von der Finanzkraft ihrer Sponsoren ab und Universitäten werden zu Maschinen zur Einwerbung von Forschungsgeldern. Die Systeme sind eben nicht alle gleich in ihrer Verschiedenheit, sondern eines ist „gleicher“ als die anderen.
Statt in der systemtheoretischen Vogelperspektive zu verharren, in der alle Systeme gleich und alle Katzen grau sind, hätte es Nassehis Krisenanalyse gutgetan, wenn er – mittels Kapitalismustheorie – einen Schritt auf die historische Wirklichkeit hin gemacht hätte.