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Zeit und Geschichte

Die neuen Faschisten? - Ein Versuch einer Klärung

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergFreitag, 13.10.2023

In meinem piq vom Montag zu den ankommenden Flüchtlingen und Migranten, die oftmals als Sündenböcke fungieren, deren Gefahren drastisch überhöht werden, kündigte ich diesen piq an. Etliche Beobachter halten die autoritär und populistisch Genannten, für neue Faschisten. Sie halten eine Renaissance des alten Begriffs für sinnvoll.

Was aber bedeutet neue Faschisten? Ist es sinnvoll einen Begriff aus dem 20. Jahrhundert wieder anzuwenden?

Nicht nur aufgrund des russischen Angriff, der propagandistisch sich als "antifaschistisch" ausgibt, aber ein imperialer Krieg ist, plädiert der Sozialwissenschaftler Berthold Franke, der bis 2022 in Neu-Delhi Regionalleiter der Goethe-Institute in Südasien war, in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" für eine Wiederkehr des Faschismusbegriffs:

Weit über die aktuellen Ereignisse in Osteuropa hinaus erweist der Blick auf eine lange Reihe internationaler politischer Bewegungen, Parteien und Regimes – von Ungarn und Belarus über Brasilien und die Türkei bis zu den Philippinen oder Indien, aber auch in gestandenen Demokratien wie den USA, Frankreich, Italien, Österreich bis hin zu den skandinavischen Ländern – ein deutliches Defizit im begrifflichen Instrumentarium. „Rechts“, „rechtspopulistisch“, „rechtsextrem“, „national-autoritär“ – all diese Titel und deren Abwandlungen vor allem in der Wortfamilie um „Populismus“ werden wieder und wieder bemüht, um sehr heterogene, im Kern aber strukturverwandte politische Phänomene zu kennzeichnen. Aber nicht erst seit der kriegerischen Aggression Putins bleibt ein Gefühl des Ungenügens.

Die so unscharf Benannten haben vieles gemein: von der Steuerung der politische Angst bis zu Scheinlösungen. Etwa in Fragen von Flucht und Migration.

Wie die faschistischen Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg sammeln sie die Frustrierten.

Schon der als Politiker gescheiterte, ins Exil vertriebene August Thalheimer (1884-1948), der aus der Erfahrung der Niederlage bis heute lesenswerte Texte über den Aufstieg von Faschisten schrieb,

fasst die von Marx beschriebene soziale Basis des Bonapartismus im Begriff „die Deklassierten aller Klassen“ zusammen und legt damit eine wichtige Spur: Faschismus nicht als politische Wahl einer Klasse oder einer Schicht, sondern als Angebot für die Abgehängten, Enttäuschten, Betrogenen, Frustrierten aller Klassen und Schichten. Entgegen der vulgärmarxistischen Lesart, wonach der Faschismus eine von kapitalistischen Eliten im Krisenfall zynisch installierte Herrschaftsform zur Sicherung ihrer Interessen und insofern lediglich eine „Form bürgerlicher Herrschaft“ sei, rückt in dieser Lesart seine Massenbasis ins Zentrum der Analyse.

Damit sind kapitalistisch organisierte Wirtschaften und Gesellschaften nicht entlastet, sondern belastet, weil sie neben häufig großer Produktivität und einer reichen Warenpalette eine immense Masse an Frustierten hervorbringen. 

Daraus, aber auch mit Hilfe anderer Faschismus-Analytiker, zieht Berthold Franke folgende Schlüsse:

Erstens: Der Faschismus ist eine politische Krisenreaktionsbildung in modernen, sich schnell entwickelnden und verändernden Gesellschaften. 

Zweitens: Der Faschismus formuliert Angebote an diejenigen, die, relativ unabhängig von ihrer konkreten sozialen Lage, sich in der Krise subjektiv verletzt, abgehängt oder gedemütigt fühlen und nimmt ihre Frustrationsenergie in Regie. 

Drittens: Der Faschismus formuliert Krisen-„Lösungen“ als radikale, systemsprengende Revisionismusprojekte in Form der Wiederherstellung einstiger, vorgeblich besserer Zustände. 

Viertens: Im Zeitalter eines durch die Grenzen des Wachstums und die ökologischen Probleme des Planeten porös gewordenen Fortschrittsnarrativs besteht ein strukturelles Vakuum für plastische, massenhaft kommunizier- und politisierbare „Lösungs“-Entwürfe, das faschistischen Bewegungen und ihren retrograden Utopien breiten Raum bietet. 

Fünftens: Durch die zuvor nicht gekannte, über die entgrenzte Kommunikation heute in Echtzeit ablaufende Vergleichbarkeit der Lebensressourcen und -chancen im Weltmaßstab sowie die idealisierte Zurschaustellung von Wohlstand und Lebensstil der Mittel- und Oberschicht des Globalen Nordens und die damit einhergehende universelle Bedürfnisproduktion erhält das Reservoir sich als Verlierer empfindender Bevölkerungsteile ärmerer Länder kontinuierlichen Zulauf.

Das verbindet Slogan, Amerika wieder groß zu machen, mit der Forderung ein neues, altes russischen Imperium wieder zu errichten. Die Errungenschaften, die seit den großen bürgerlichen Revolutionen wie der großen Revolution der Franzosen in jahrzehntelangen Kämpfen entstanden sind, allen voran Liberalismus bis Demokratie, sollen wieder abgeschafft werden. 

„Great again“ heißt es nicht nur bei den US-Republikanern, sondern auch in der postosmanischen Türkei, bei den indischen Hindu-Nationalisten, in Serbien und Ungarn sowie bei den Brexiteers, wobei immer wieder an Narrative vergangener nationaler Größe angeknüpft wird, die wiederherzustellen sei. Offensichtlich ist diese Erzählung höchst effektiv ausbeutbar, indem sie durch ihre Parameter „Größe“ und Macht ein Urmotiv überkommener männlicher Selbstbilder nährt. Das faschistische Heils- und Heilungsversprechen wirkt insofern besonders sichtbar und erfolgreich an den kulturellen Flanken einer sich durch Angst vor Machtverlust und „Kleinerwerden“ bedroht fühlenden Männlichkeit, und Antifeminismus ist immer ein guter (wenngleich nicht hinreichender) Faschismus-Indikator.

Bei allen Gemeinsamkeiten, die der Autor für eine neue breite Verwendung des Faschismus plädieren lassen, gibt es markante Unterschiede zwischen dem Faschismus des 20. und dem heutigen. Etwa die Massenmobilisierungen und Märsche sind weitgehend verschwunden.

Nicht weit hergeholt scheint jedenfalls, dass unser Begriff vom Faschismus so stark von den Bildern marschierender Schwarzhemden und SA-Trupps geprägt ist, dass wir die tiefe Verwandtschaft zu heutigen Bewegungen übersehen, deren Aufmärsche vor allem in Telegram und ähnlichen Medien stattfinden.

Der Autor beschränkt seinen erweiterten Faschismusbegriff nicht auf den Westen oder den globalen Norden. Beim islamischen Faschismus findet man Vergleichbares: 

autoritärer Antidemokratismus, aggressive nationale und kulturelle Feindbestimmung (Israel, die USA, der „dekadente Westen“) und ein revisionistisches Großprojekt, die Wiederherstellung und Verbreitung des salafistisch-orthodoxen Islam bis hin zum neuen Kalifat des IS. 

Das verbindet viele - von den iranischen Mullahs bis zu den afghanischen Talibans.  

Aber auch im indischen antimuslimischen Hindu-Nationalismus finden sich sämtliche Motive und Aktionsformen eines religiös formatierten Faschismus, zu dessen inneren Feindbild die islamische „Minderheit“ (immerhin fast 200 Millionen Menschen) und zu dessen Ziel die Wiedererrichtung eines angeblich vormals „reinen“ Hindu-Indiens erklärt wird, in dem für die multireligiösen und multikulturellen Institutionen des demokratischen Gandhi-Indiens kein Platz mehr ist.

Es gibt, hier werden möglicherweise einige stutzen, auch einen antikolonialen Faschismus. Etwa, wenn Russlands Angriffskrieg als Teil der Zurückdrängung der von den USA dominierten globalen Politik behauptet wird. 

Und das geschieht

offenbar nicht ohne Erfolg in vormals von westlichen Mächten kolonisierten Weltgegenden. Dem Zurück ins vorkoloniale Hindu-Indien der Hindutva-Fanatiker in Südasien entspricht in gewisser Weise der Mythos von Moskau als „Drittem Rom“, in dem uralte Träume von der russischen imperialen Mission heilsgeschichtlich ausgedeutet werden.

Berthold Frankes Fazit lautet deshalb:

Ohne Freiheit, Fairness und Bildung bleibt der Faschismus Wegbegleiter und permanente Bedrohung der politischen Moderne. Und zwischen den heutigen Ereignissen und denjenigen in Europa vor hundert Jahren gibt es zu viele Parallelen, als dass man es sich leisten könnte, auf einen starken, erneuerten Faschismusbegriff zu verzichten. Überrascht von der Rückkehr des Krieges in Europa, müssen die Demokraten in aller Welt sich dringend auf die neue Aktualität des Faschismus einstellen.

Die neuen Faschisten? - Ein Versuch einer Klärung

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Kommentare 6
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor einem Jahr

    Die Definition des Faschismus von Berthold Franke trifft m.E. so ähnlich auf linke Populisten zu, für die oftmals Rechte als Sündenböcke fungieren, deren Gefahren drastisch überhöht werden. Im Grunde spiegeln sich die Ideologien nur wechselseitig ohne die Probleme real zu lösen.

    Ja, kapitalistisch organisierte Wirtschaften und Gesellschaften bringen neben großer Produktivität und einer reichen Warenpalette eine immense Masse an Frustrierten hervor - die das auch deutlich formulieren (können). Linke, sozialistisch organisierte Gesellschaften fehlte und fehlt es an Produktivität und ausreichender Warenproduktion. Frustrierte gab und gibt es um so mehr. Nur dürfen diese das nicht äußern.

    Heißt „Great Again“ bei den US-Republikanern nicht gerade den Rückzug aus dem imperialen, globalen Raum? Schließen der Grenzen? Konzentration auf die eigene Wirtschaft? Nicht das Verschieben von Grenzen hin zur Okkupation anderer Völker, die man mal beherrscht hat? So unsympathisch mir Trump & Co. sind, man muß schon genau vergleichen.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor einem Jahr

      Der Faschismus des 20. Jahrhunderts hatte ja auch starke Differenzen. Mussolini griff die moderne Kunst nie so an wie Hitler.

      Außerdem muss man zwischen Rhetorik und Taten unterscheiden: das erste ernsthafte Industrieprogramm legte Biden auf und nicht der "Arbeiterführer" Trump, der Steuererleichterungen für Reiche durchsetzte.

      Ohne den Wiederstand der Linken gäbe es keinen Sozialstaat - weder hierzulande noch anderswo.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

      @Achim Engelberg Also natürlich gäbe es ohne die Kämpfe um soziale Absicherung keinen Sozialstaat. Aber dafür haben nicht nur die „Linken" (wen immer man dazu zählt) gekämpft. Und der deutsche Sozialstaat wurde unter Hitler ausgebaut - allerdings national-sozialistisch. So einfach ist doch die Zuschreibung von Ursache und Wirkung da nicht. Siehe Götz Aly:

      https://www.tagesspieg...

    3. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor einem Jahr

      linke sind grundsätzlich nicht faschistisch. ihr Programm war immer schon eher global ausgerichtet. Was an Linken faschistisch sein kann, ist ihre Russland-Affinität: was dann (!) revisionistisch wird.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      @Cornelia Gliem Ein kurzer Blick auf die Geschichte linker Bewegung zeigt eigentlich deutlich wie oft Linke national ausgerichtet waren - vom Sozialismus in einem Land unter Stalin, der Nationalbolschewismus unter Ho über Pol Pot oder Kim bis Mao. Klar, auch Linke wollten/wollen oft die Welt beherrschen, ihr System ausdehnen, den Kapitalismus stürzen. Und wenn sie konnten, wurden Imperien errichtet - und wehe wer ausbrechen wollte. Insofern hatten viele dieser Bewegungen auch globale Ambitionen. In der Beziehung war kein großer Unterschied zum Faschismus.

  2. Michael Homborg
    Michael Homborg · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

    Brillant, aber jetzt gilt es innovativ-konstruktiv auf diese Bedrohung zu reagieren um die Fehler der Politik der 30er Jahre nicht zu wiederholen. Gerne nenne ich alles und jeden um mich herum einen Fascho und erkläre ihm/ihr auch warum er/sie betroffen ist, aber ohne Dimension wie eine Abkehr von gefasster Überzeugung möglicherweise aussehen könnte.... ich habe Zweifel, dass die reine Heranführung an den Punkt der Selbsterkenntnis ausreichend ist. Aber vlt gibt es dazu ja auch Studien, kennt da jemand was?

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