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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Am Sonntag gibt es Wahlen in Belarus und erstmalig tritt die Opposition gegen den Langzeitherrscher Lukaschenka, der in der Rolle des strengen, aber sorgenden Landesvaters agierte, ungewöhnlich stark und entschieden auf. Deshalb wird das Land stärker wahrgenommen.
Und es ist ein Grund, dieses für viele Europäer unbekannte Gebiet ihres Kontinents, näher zu beleuchten. Der Kenner und Erzähler Ingo Petz, der seit über zwei Jahrzehnten diese Übergangsregion Europas erhellt und mit einer Frau aus Belarus verheiratet ist, legt die Besonderheiten dieses Landstriches dar.
Immerhin ist - bis auf ein kurzes Intermezzo - Belarus erst seit 1991 ein eigener Staat und nicht Teil eines Imperiums. Deshalb erzählt Ingo Petz die späte Nationsbildung, aber auch wie die Mentalität und Kultur von Belarus sich formte.
Wassil Bykau (1924-2003) ist der im Westen immer noch weitgehend unbekannte Nationalschriftsteller. Und er ist wirklich ein umwerfend guter Erzähler. Ingo Petz wählte für seinen Essay den Titel einer von Sergei Loznitsa verfilmten Erzählung des in Belarus verehrten Schriftstellers:
Er hat sich unumwunden für die Unabhängigkeit seines Landes eingesetzt, für die belarussische Kultur und Sprache. Er stellte sich auch von Anfang an gegen Aljaksandr Lukaschenka, der das Land nach einem kurzen und wilden Ausflug in die Demokratie ab 1994 zielstrebig zurück auf die Gleise in den Autoritarismus setzte. In Bykaus Romanen und Novellen geht es im Kern vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges, den er selbst als Offizier in der Roten Armee erlebt hatte, immer wieder um existentielle Kernfragen. Was macht einen Menschen in Extremsituationen zu einem Menschen? Wann und warum verschwimmen die Grenzen zwischen Feinden?
Da die Region nie selbstständig war, sondern immer Teil von etwas war - vom Großfürstentum Litauen bis zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, vom Zarenreich bis zur Sowjetunion - entwickelten die Menschen dort
keine Gewissheit über einer übergeordneten Zugehörigkeit zu einer „vorgestellten Gemeinschaft“ (Benedict Anderson).
...
Man nannte sich auch nicht Belarussen, sondern einfach Tuteyshiya, die Hiesigen. Wer aufsteigen wollte, musste sich an den Lebensformen, Mythen und kulturellen Codes der Herrschaftsgebiete und deren Elite orientieren, zu dem man jeweils gehörte; man musste entsprechend Polnisch können, im Zarenreich und zur Zeit der Sowjetunion schließlich Russisch.
Da die Region immer wieder Schauplatz von Kriegen war, von verschiedenen Fronten und Invasoren von Napoleon bis Hitler überrollt worden ist, ist es eine der tragischen Regionen Europas, ja, der Welt.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass nicht die aus Belarus stammende Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, deren Stoff Aufstieg und Fall der Sowjetunion ist, sondern Wassil Bykau, der Dichter der Extremsituation, der Nationalschriftsteller ist.
Allein im Zweiten Weltkrieg starben rund ein Viertel der Bevölkerung - und das nicht nur durch Kriegshandlungen. Die Städte waren oft geprägt von Juden, die während der deutschen Okkupation ermordet worden sind.
Dazu kommen noch andere Katastrophen wie der Stalinistische Terror und das Teile von Belarus stark von der Reaktorkatastrophe im benachbarten Tschernobyl betroffen waren und sind.
Nach Ingo Petz führt das
bis heute ebenfalls dazu, das es eine tiefe Abneigung gegen Konflikte und entsprechend verinnerlichte Vermeidungsstrategien gibt. „Lish by ne bylo voiny. Hauptsache es gibt keinen Krieg“, ist eine gängige Redensart in Belarus, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Wie kam es aber, dass es nun langsam knirscht und knackt? Das sich ein Erwachen andeutet?
Die lange Zeit der autoritären Herrschaft war gekennzeichnet durch einen Schaukelkurs zwischen der EU und Russland, der der Region einen bescheidenen Wohlstand brachte.
Gerade viele Dörfer in der Region waren nicht so durch die Furien des Neoliberalismus zerstört wie in den Nachbarländern. Aber nun begann eine wirtschaftliche Zersetzung:
Viele Belarussen mussten nach Polen oder Russland ausweichen, um dort Arbeit zu finden.
...
Ohne Frage wird das Soziale für die Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Das Familienleben, in dem Lukaschenka sich als Überväterchen der Belarussen eingerichtet hat, ist wohl für immer zerrüttet. Das lässt sich nun – noch mehr wie in den Jahren zuvor – nur noch mit Gewalt und Repressionen zusammenhalten. Die Belarussen sind bereit, sich einem anderen Leben zu stellen.
Aktuelles gibt es im piq von Ulrich Krökel.
Quelle: Ingo Petz www.eurozine.com
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